Martin Walser 2013
Martin Walser 2013 bei der Lit Cologne.
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Seine Bücher, sagte Martin Walser einmal in einem Interview, seien die Schaufel, mit der er sich selbst umgrabe. Fast sieben Jahrzehnte – er debütierte 1955 mit dem Erzählband "Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten" – ist Walser dieser Schürfarbeit treu geblieben. Und er hat dabei viel Material bewegt – literarisch und gesellschaftlich. Von Anfang an war es jenes fragile Konstrukt des Ich, das Ringen des Individuums, oft des Autors selbst, um ein selbstbestimmtes Leben, das im Zentrum der Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenstücke dieses Autors stand. Gottlieb Zürn, Anselm Kristlein, Helmut Halm, Anton Percy oder Franz Horn heißen seine vom Dasein in der deutschen Nachkriegsgesellschaft irritierten Figuren. Fast immer handelt es sich um "Unterlegenheitsspezialisten" in einer Konkurrenzgesellschaft, um Schwäche-Vertuschungsvirtuosen, die um Zugehörigkeit kämpfen und den Tod ihrer Wünsche hilflos mitansehen müssen.

Erkennt man in Walsers Figuren allerdings nur kleinbürgerliche Idioten, was oft passierte, tut man ihnen unrecht, denn alle versuchen sie, den aufrechten Gang zu üben – und kommen doch immer wieder ins Stolpern. Zürn und Co sitzen in den Einzelzellen ihres Selbst, sie sind isoliert, und wenn sie reden, kommt keine Kommunikation zustande. Dialoge sind bei Walser immer Monologe im Beisein eines anderen. Das mag einer der Gründe sein, warum das gute Dutzend Bühnenstücke, die Walser schrieb, in keiner Weise die Brillanz seiner Prosa erreicht.

"Volkswagen" der deutschen Literatur?

Rund 60 Prosa- und Essaybände, dazu unter dem Titel "Leben und Schreiben" erschienene Tagebücher hat Martin Walser publiziert. Was dem produktiven Autor den Vorwurf einbrachte, so etwas wie der Volkswagen unter den deutschen Schriftstellern zu sein. Er habe, meinten einige, wenige Meisterwerke vorzuweisen, sondere dafür aber literarische Meterware vom Band ab. In den letzten zwei Jahrzehnten hieß es dann, er zapfe in seiner Altherrenprosa immer dünneren Wein aus alten Schläuchen.

Leicht gemacht hat es sich der 1927 in Wasserburg am Bodensee geborene alemannische Dickschädel, der seiner süddeutschen Heimat ein Leben lang treu blieb, in vielerlei Hinsicht nicht. Von Anfang an hinterfragte Walser zuweilen trotzig vorgegebene Sprachregelungen, so galt er im Laufe der Zeit unter anderem als Kommunist (durch sein Anti-Vietnam-Engagement in den 1960ern), zehn Jahre später hieß man ihn einen "Einheitsfantasten", weil er die deutsche Teilung ein "Katastrophenprodukt" genannt hatte. Und einige Jahre nach der Wiedervereinigung, geriet dann seine Auseinandersetzung mit dem, was Salomon Korn den "Jargon der Betroffenheit" nannte, zu einem Skandal. In seiner bis heute wenig gelesenen, aber berüchtigt gebliebenen Pauluskirchen-Rede anlässlich des 1998 an ihn vergebenen Friedenspreises des deutschen Buchhandels trat Walser die letzte große Debatte über den Umgang Deutschlands mit seiner Nazivergangenheit los. Walser, von dem der in den 1970er-Jahren geäußerte Satz stammt "Wir müssen die Wunde namens Deutschland offen halten", wandte sich in der Pauluskirche gegen die "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken". Auschwitz, so der Autor, eigne sich nicht dafür, "Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung". Neben dem von ihm heftig kritisierten Berliner Holocaustmahnmal für die ermordeten Juden Europas („ein fußballfeldgroßer Albtraum“) wandte sich Walser auch gegen die "Meinungssoldaten" in den Medien. Gegen linke Aufsichtsintellektuelle, den "Tugendterror der Political Correctness" und "Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung" hatte er schon Jahre zuvor in Interviews polemisiert.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde Walsers Werk fast ausschließlich unter den Prämissen des Politischen wahrgenommen. Aus dem literarischen Chronisten Nachkriegsdeutschlands war über Nacht ein "geistiger Brandstifter" geworden, wie es Ignaz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, ausdrückte. Das Buch "Tod eines Kritikers" (2002), ein vermeintlicher Marcel-Reich-Ranicki-Schlüsselroman, in dem ein Autor einen Großkritiker ermorden will, brachte Walser dann zusätzlich unter Antisemitismusverdacht. Unter anderem kündigte ihm Ruth Klüger öffentlich die über 50 Jahre währende Freundschaft, und jahrelang kam es bei Lesungen des Autors zu Tumulten, einige mussten unter Polizeischutz abgehalten werden. Walser gab sich stur, nahm allerdings seine Kritik am Holocaustmahnmal zurück – und schrieb weiter.

Es folgte eine ganze Reihe gelassener Alterswerke unter anderem mit "Meßmers Reisen" (2003) und "Meßmers Momente" (2013) zwei hinreißende kleine Bände mit Notaten, literarischen Skizzen und Gedankensplittern aus der 1985 mit "Meßmers Gedanken" begonnenen Reihe um Walsers literarisches Alter Ego Herbert Meßmer. Viel drehte sich in den letzten Büchern Walsers um die Themen Glaube, Liebe, Hoffnung. Allerdings wurden die Romane "Der Augenblick der Liebe" (2004), "Angstblüte" (2006) und "Ein liebender Mann" (2008) von Kritik und Publikum primär als Altersschreibe wahrgenommen, die sich – vornehm gesagt – mit der biologischen Tatsache des Verfalls der Manneskraft befassen.

Neuer Ton in späten Jahren

In den 2010er-Jahren änderte sich der Ton im Werk – und in den zahlreichen Interviews, die Walser immer noch gab – deutlich. "Muttersohn" (2011), "Das dreizehnte Kapitel" (2012) oder der Essayband "Über Rechtfertigung" (2012) zeigen einen versöhnlicheren und durchlässigeren Autor. Recht machen konnte es der unermüdlich weiterpublizierende Martin Walser, der viele seiner früheren Statements in seinen späten Jahren revidierte, ohnehin fast niemandem mehr. So wurde etwa sein Buch "Shmekendike blumen" (2014) über die Prosa des auf Jiddisch schreibenden Schriftstellers Sholem Yankev Abramovitsh, der 1917 in Odessa gestorben ist, als eine Art "Wiedergutmachung" missverstanden.

Noch 2022 erschien von ihm, gemeinsam mit Cornelia Schleime, "Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf". IM selben Jahr gehörte Walser zu den Unterzeichnern des Offenen Briefs von Alice Schwarzer zum Ukraine-Krieg, der eine heftige Debatte in Deutschland über Pazifismus und Feigheit im Angesicht von Gewalt auslöste. Er habe schlicht nicht anders können, als sich zu gewissen Themen auch öffentlich zu verhalten, sagte Walser einmal: "Ich habe zwar auch Literatur und Philosophie studiert. Und trotzdem war ich dem Aktuellen ausgesetzt und dem Zwang, reagieren zu müssen. Obwohl ich mir doch mit Franz Kafka hätte sagen müssen: Ist doch alles unwichtig. Aber es nützte nichts."

Im Kern hat Walser, der 1943 als Flakhelfer eingezogen wurde und nach dem Krieg das Abitur nachholte, bevor er Literaturwissenschaft studierte und über Kafka promovierte, als Schreibender wie als Leser Literatur immer auch als Auskunft verstanden. Eine Auskunft über andere Menschen, sich selbst und über unsere Geschichte. In diesem Sinne waren für Walser, wie er in "Das dreizehnte Kapitel" schrieb, Romane immer auch "Sachbücher der Seele." Martin Walser, der einmal postulierte, "wenn man von etwas nicht das Gegenteil gesagt hat, hat man nur die Hälfte gesagt", starb am 28. Juli 2023, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete. (Stefan Gmünder, red, APA, 28.7.2023)