Eine kleine EU-Flagge ist inmitten von Stacheldraht zu sehen.
Kommen weniger Menschen nach Europa, da an den Grenzen das Menschenrecht gebrochen wird? Darüber gehen die Meinungen auseinander.
imago / Martin Bäuml Fotodesign

Wien – Als Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) und Karoline Preißer, Vizedirektorin des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA), am Montag bei einer Pressekonferenz die aktuellen Zahlen zu Asylanträgen und Außerlandesbringungen im ersten Halbjahr 2023 präsentierten, war Karner die Genugtuung anzumerken. "Es ist eine gute, eine positive Bilanz", meinte Karner. Denn die Zahl der neuen Asylanträge lag in den ersten sechs Monaten um 29 Prozent unter dem Wert des Vergleichszeitraums 2022. Im Juni war der Rückgang mit einem Minus von 50 Prozent sogar noch deutlicher. Und: Den knapp 28.000 freiwilligen oder zwangsweisen Ausreisen von Fremden im heurigen ersten Halbjahr stehen nur rund 23.000 Neuanträge gegenüber. Für den Innenminister der Beleg, dass die Strategie der Bundesregierung beziehungsweise seines Ressorts funktioniere.

Video: Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) präsentierte am Montag die aktuellen Zahlen zu Asylanträgen und Außerlandesbringungen.
APA

Allerdings werden dabei, wie so oft in der emotional geführten Debatte, verschiedene Obstsorten miteinander verglichen. Denn bei den 5.872 von der Außerlandesbringung Betroffenen sind die Top-drei-Nationalitäten Slowaken, Serben und Rumänen, erklärte Preißer auf Nachfrage bei der Pressekonferenz. Diese Nationalitäten sind betroffen, wenn etwa aus der Vergangenheit ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot vorliegt oder die Personen nach einer Straftat das Land verlassen müssen – Asylwerber waren die wenigsten von ihnen.

Mehr Verfahren erledigt, mehr Abschiebungen und Ausreisen

Dennoch geben sich Karner und Preißer zufrieden: Die Zahl der Außerlandesbringungen sei im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2022 um 20 Prozent gestiegen, die Zahl der erledigten Asylentscheidungen sei um 60 Prozent gestiegen, und nach dem Abschluss internationaler Vereinbarungen wie zum Beispiel dem Maghrebstaat Marokko seien von diesem im ersten Halbjahr bereits dreimal so viele Ersatzreisedokumente für die Rückkehr eigener Staatsbürgerinnen und -bürger ausgestellt worden wie im gesamten Vorjahr.

Für Karner liegt der Rückgang bei den Asylwerberzahlen an mehreren Faktoren: konsequenten Grenzkontrollen durch die heimische Polizei im In- und Ausland, schnelleren Asylverfahren, verstärkten Abschiebungen sowie internationalen Initiativen. Neben der Kooperation mit Marokko habe etwa auch der Druck auf Serbien, die visafreie Einreise für Inder und Tunesier in den Balkanstaat zu beenden, dazu geführt, dass weniger Menschen aus diesen Ländern in Österreich um völkerrechtlichen Schutz ansuchen. Damit sei es gelungen, den Trend im Gegensatz zu anderen Ländern umzukehren, zeigt der Innenminister sich überzeugt: Denn in Deutschland sei die Zahl der Asylanträge bis Ende Juni um 82 Prozent, in Italien um 63 Prozent gestiegen.

Innenminister Gerhard Karner hält sich mit ernstem Gesichtsausdruck einen Finger an die Lippen.
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) schaut bei einer Pressekonferenz im Innenressort zwar ernst, ist aber innerlich zufrieden: Die Zahl der Asylwerber ging im ersten Halbjahr markant zurück.
REUTERS/LEONHARD FOEGER

Allerdings: In einem Beitrag im Ö1-"Morgenjournal" wurde über die Kooperation der österreichischen Exekutive mit den ungarischen Behörden berichtet und Kritik an dem Einsatz geübt. Die heimischen Polizisten seien dort Teil der "Operation Fox", in deren Zuge über 170.000 Migranten von Ungarn zurück nach Serbien gebracht worden seien, wie ein ungarischer Menschenrechtsaktivist behauptet. Darunter seien auch solche, die von österreichischen Beamten an die ungarischen Behörden übergeben wurden.

Und dieses Zurückbringen sei großteils menschenrechtswidrig erfolgt – die Menschen würden einfach durch Tore im Grenzzaun zu Serbien in den Balkanstaat verfrachtet, sagt der Menschenrechtler. Ein ungarischer Polizist kontert dagegen, die irregulär eingereisten Personen würden an offiziellen Grenzübertrittsstellen den serbischen Behörden überstellt. Wobei beim österreichischen Einsatz zu differenzieren ist: Einerseits sind österreichische und slowakische Beamte gemeinsam mit Ungarn an regulären Grenzübergängen aktiv. Und dann gibt es die erwähnte "Operation Fox", die sich bereits auf ungarischem Staatsgebiet abspielt.

"Pushback" versus "Zurückweisung"

Innenminister Karner dementierte bei der Pressekonferenz, dass Beamte aus seinem Ressort direkt oder indirekt an "gewaltsamen Pushbacks" beteiligt seien, wie er es formulierte. Darunter verstehe er allerdings nur "gewaltsames Zurückdrängen über eine Grenze". Sollte es diesbezüglich Vorwürfe geben, müssten diese untersucht werden. Er geht allerdings davon aus, dass es sich um rechtskonforme Zurückweisungen handle, die auch zwischen Österreich und Ungarn beziehungsweise zwischen Deutschland und Österreich vonstattengehen würden.

31 heimische Polizisten und Polizistinnen sind seit dem Start der Operation im Dezember im ungarischen Hinterland im Einsatz, erfährt man auf Nachfrage im Innenministerium, 1.000 Fremde wurden in diesem Zeitraum aufgegriffen und an die Kollegen des Nachbarlands übergeben. Zusätzlich seien 70 mutmaßliche Schlepper festgenommen worden, rechnet man im Ressort vor.

Doch gibt es den von Karner gemachten Unterschied zwischen Zurückweisungen und "gewaltsamen Pushbacks" überhaupt? Rechtlich wird das unterschiedlich eingeschätzt. Tatsächlich finden sich in Paragraf 41 des heimischen Fremdenpolizeigesetzes die Erläuterungen, wann ein Mensch an der Einreise gehindert werden kann oder im "Grenzkontrollbereich" (einem mehrere Kilometer tiefen Landstreifen nach der Grenze) in das Nachbarland zurückgewiesen werden darf. Der wichtigste Punkt: Zulässig ist eine derartige Zurückweisung, wenn die "Einreise nicht rechtmäßig ist", also zum Beispiel ein Drittstaatsangehöriger über kein Visum für den Schengenraum verfügt. Allerdings: "Über die Zulässigkeit der Einreise ist nach Befragen des Fremden auf Grund des von diesem glaubhaft gemachten oder sonst bekannten Sachverhaltes zu entscheiden", steht im dritten Absatz des Paragrafen.

In der Praxis ist damit gemeint, dass es Fremden ermöglicht werden muss, um Asyl anzusuchen. Macht er oder sie das, muss ein ordentliches Verfahren eingeleitet werden, heißt es bei Fremdenrechtsexperten der Universität Wien. Mittlerweile gehen lauf BFA-Vizechefin Preißer diese aber auch durchaus zügig: Vermuten die Behörden, dass kein Grund für völkerrechtlichen Schutz vorliegt, kann in einem Eil- oder einem Schnellverfahren über den Antrag entschieden werden. Das passiere innerhalb von 22 Stunden bis 36 Tagen.

In der Genfer Flüchtlingskonvention ist dagegen im Artikel 33 explizit ein Verbot der Ausweisung und der Zurückweisung festgehalten. Nur: Dieser Passus bezieht sich auf ein Verbot, einen Flüchtling in ein Land oder Gebiet auszuweisen, "in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde".

In Europa geht es im Zusammenhang mit Zurückweisungen und Außerlandesbringungen aber meistens um den enger gefassten Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dieser verbietet "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung". Aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen drohe ebendiese in Ungarn und Serbien, schließlich würden derzeit auch Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Ungarn in diesem Bereich laufen.

Europarat kritisiert Praktiken an Grenzen

Der Begriff "Pushback" ist völkerrechtlich dagegen weniger gut verankert. Gemeint ist damit, dass Sicherheitskräfte einem Einreisenden entweder nicht die Möglichkeit geben, einen Asylantrag zu stellen, oder seine Argumente ignorieren, erklärt Rechtsanwalt Clemens Lahner. Mit etwaiger Gewaltanwendung, wie Innenminister Karner argumentiere, habe das nichts zu tun, ist Lahner überzeugt: "Das ist Unsinn." Das Anti-Folter-Komitee des Europarats prangerte in seinem heuer veröffentlichten Bericht für das Jahr 2022 zahlreiche "illegale Pushbacks" an den Grenzen der Europaratsmitglieder an.

Konkret heißt es aus dem Englischen übersetzt: "Illegale Pushbacks werden regelmäßig durchgeführt im Zusammenhang mit gewaltsamen Entfernungen und unter erbärmlichen Bedingungen an den Land- und Seegrenzen von mehreren Mitgliedsstaaten des Europarats." Derartige Handlungen seien "illegal und inakzeptabel", kritisierte der Europarat. Allerdings: Auch nach den österreichischen Gesetzen dürfen Sicherheitskräfte bei einer rechtmäßigen Zurückweisung angemessene behördliche Zwangsgewalt anwenden, wenn sich jemand nicht an die Anordnungen hält. Die Grenze scheint sehr eng zu sein – in der Vergangenheit haben heimische Höchstgerichte bestätigt, dass es zu illegalen Abweisungen durch heimische Beamte an der Grenze zu Slowenien gekommen sei. (Michael Möseneder, 31.7.2023)