Ein schwebender, pillenförmiger Gegenstand, umgeben von Dunst.
Das Schweben über Magneten ist eine wichtige Eigenschaft von Supraleitern. Doch auch andere Materialien sind dazu fähig.
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Wissenschaft kann manchmal ziemlich abenteuerlich sein. Zwar hilft die wissenschaftliche Methodik, Ordnung ins Streben nach Neuem zu bringen, doch wer hinter die saubere Oberfläche aus technisch klingenden Fachpublikationen blickt, kann einem faszinierenden Prozess beiwohnen, der nicht immer geradlinig verläuft. Deshalb eines gleich vorweg: Vieles in diesem Text ist spekulativ, die aktuellen Arbeiten haben noch nicht den Peer-Review-Prozess durchlaufen.

Doch seit der Vorabveröffentlichung zweier wissenschaftlicher Arbeiten, die einen spektakulären Durchbruch in der Supraleiterforschung behaupten, ist die Jagd nach der Bestätigung des Effekts eröffnet und lässt sich live in sozialen Medien zu verfolgen. Arbeiten, von denen man normalerweise Jahre im Nachhinein in Fachpublikationen (oder hier in Wissenschaftstexten des STANDARD) lesen kann, werden von Forschungsgruppen in Echtzeit gestreamt.

Die Behauptung einer koreanischen Gruppe vom 22. Juli gibt durchaus Anlass zu Superlativen, und ihre Bedeutung wird, für den Fall einer Bestätigung, mit der Entdeckung des Transistors verglichen. Sie würde das Ende des elektrischen Widerstands in vielen praktischen Anwendungen bedeuten. Wärmeentwicklung in Computerprozessoren würde der Vergangenheit angehören, die Effizienz von Elektromotoren, Transformatoren und Generatoren aller Art würde mit einem Mal enorm steigen, mit Auswirkungen auf den Energiesektor und und den Umstieg auf erneuerbare Energiequellen.

Überhastete Veröffentlichung

Dass bereits die pure Ankündigung der möglichen Entdeckung auf großes Interesse stößt, liegt also in der Natur der Sache. Rätselhaft war hingegen die Qualität der ersten Arbeit von drei Autoren. Diese Arbeit war offenbar nicht abgesprochen und wurde vom dritten Autor, einem ehemaligen Mitglied des Teams, im Alleingang eingereicht. Sie wurde von verschiedenen Forschenden aus dem Bereich der Supraleitung als qualitativ auffällig schlecht kritisiert. Das Team musste darauf reagieren und veröffentlichte eine neue, ausführlichere Arbeit dazu. Auch sie wurde von Fachleuten als zumindest unvollständig kritisiert. Inzwischen erhielt diese Arbeit ein Update, das einige der offenen Fragen klärt. Schon letztes Jahr hatten die drei Autoren des ersten Papers ein Patent auf das neue Material angemeldet, das auch akzeptiert wurde.

Dazu kommt die einigermaßen skurrile Tatsache, dass bereits im April eine Version der ersten Arbeit, mit identischem Titel und Vorspann, aber den Autoren beider Arbeiten, weitgehend unbemerkt in einem koreanischen Fachjournal erschienen ist. Diese Studie hat tatsächlich bereits den Peer-Review-Prozess durchlaufen, doch erst die englischsprachige Vorabveröffentlichung auf einem Preprint-Server sorgte für das nun zu beobachtende internationale Echo. Die Veröffentlichung in einem unbekannten Journal wirft die Frage auf, warum ein derartiger Durchbruch nicht in einer der großen internationalen Fachzeitschriften erschien.

Es ist der in den koreanischen Arbeiten beschriebene einfache Herstellungsprozess für den möglichen Supraleiter, der helfen sollte, bald Klarheit zu schaffen. Ein Material namens Blei-Apatit wird dabei mit Kupferatomen "verunreinigt", ein Prozess, der im Fachjargon als Dotieren bekannt ist. Schnell war klar, dass es für andere Gruppen gut herzustellen sein sollte. Das Magazin "Science" kündigte schon letzte Woche an, dass es nur wenige Tage dauern dürfte, um die Behauptungen zu überprüfen. Genau das versuchen seither universitäre und private Forschungsinstitute in aller Welt. Und nicht nur das: Der Prozess ist sogar so einfach, dass einige Forschende im Privaten versuchen, das Material herzustellen, und den Fortschritt in sozialen Medien teilen.

Die Herstellung supraleitender Kabel am Kernforschungszentrum Cern. Teilchenbeschleuniger brauchen Supraleiter zur Herstellung der extrem starken Magnetfelder. Hier ist von "Hochtemperatur"-Supraleitern die Rede, doch "hoch" ist relativ zu sehen. Die Kühlung ist aktuell extrem aufwendig.
CERN

Teilweise Bestätigungen aus China

Mehr Gewicht hat natürlich die universitäre Forschung. Hier gibt es eine Reihe von Gruppen, die bisher an der Herstellung des neuen Supraleiters gescheitert sind. Doch anderorts gibt es Erfolgsmeldungen, wie auch der in der Supraleiterforschung aktive Physiker Wolfgang Lang von der Universität Wien bestätigt: "Ein Video aus China zeigt etwas Levitation, jedoch deuten ja auch die Messungen darauf hin, dass LK-99 diamagnetisch ist, was nicht unbedingt von Supraleitung verursacht sein muss. In dem Zusammenhang ist ganz interessant, dass ein Ausgangsmaterial für die Herstellung, Pb2SO5, bei Temperaturen zwischen 300 und 400 Kelvin auch diamagnetisch ist."

Supraleiter zeichnen sich wie gesagt durch die Eigenschaft aus, dass sie elektrischem Strom keinen Widerstand bieten. Ein von außen kommendes Magnetfeld kann darin also mühelos Strom induzieren. Fachleute sprechen davon, dass das Magnetfeld aus dem Material verdrängt wird. Ein Nebeneffekt dieses "Meißner-Ochsenfeld-Effekts" ist, dass Supraleiter in Magnetfeldern schweben. Diese eindrucksvolle Eigenschaft konnte das südkoreanische Team bereits in Videos demonstrieren. Und tatsächlich gelang es inzwischen offenbar mehreren Gruppen, diesen Effekt zu reproduzieren.

Doch das Schweben allein macht noch keinen Supraleiter, wie Lang gegenüber dem STANDARD betonte. Um schweben zu können, müssen Materialien "diamagnetisch" sein. Bei ihnen entsteht, wenn sie einem äußeren Magnetfeld ausgesetzt sind, ein entgegengesetztes Magnetfeld. Bei Graphit lässt sich diese Eigenschaft ebenfalls beobachten. Zusätzlich muss eine Reihe weiterer Eigenschaften bestätigt werden, insbesondere das Verschwinden des Widerstands selbst, dem ja das Interesse eigentlich gilt. Umso interessanter ist die Tatsache, dass es eine Bestätigung für die Supraleitung selbst zu geben scheint, wie Lang erklärt: "Eine chinesische Forschungsgruppe behauptet in einem Preprint, in LK-99 unter 110 Kelvin, also bei minus 163 Grad Celsius, ein Verschwinden des elektrischen Widerstands beobachtet zu haben. Obwohl Supraleitung bei diesen Temperaturen schon seit längerem in den Kupferoxid-Supraleitern bekannt ist, könnte es dennoch ein Hinweis sein, dass LK-99 interessante Eigenschaften aufweist." Lang weist allerdings darauf hin, dass andere Gruppen bisher keinen Hinweis auf Supraleitung in LK-99 finden konnten.

Mögliche theoretische Erklärung

Auch die theoretische Festkörperphysik stürzt sich auf das Phänomen. In den letzten Tagen erschienen mehrere theoretische Arbeiten, die nahelegen, dass in dem neuen Material tatsächlich etwas Interessantes geschieht, das zu Supraleitung führen könnte. Eine dieser Arbeiten stammt von Liang Si und Karsten Held vom Institut für Festkörperphysik der Technischen Universität Wien. Sofort nach der spektakulären Ankündigung aus Korea machte man sich dort an die Arbeit. "Entscheidend ist die sogenannte Bandstruktur des Materials", erklärt Karsten Held. "Sie sagt uns, welche Kombinationen aus Geschwindigkeit und Energie für die Elektronen in diesem Material möglich sind. Wenn man diese Bandstruktur kennt, kann man viel über die elektrischen Eigenschaften des Materials aussagen."

Bei den angesprochenen Energiebändern handelt es sich um Phänomene der Quantenwelt. Ohne Quantenphysik wären Atome wie kleine Planetensysteme, in denen Elektronen den deutlich schwereren Atomkern umkreisen. Doch aufgrund der Quantengesetze sind die Elektronen an bestimmte "Energieniveaus" gebunden, die durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben werden. Beim Zusammenspiel vieler Atome in einem Festkörper verbreitern sich diese Energieniveaus zu Energie-"Bändern", in denen Elektronen fließen können.

Die theoretische Umgebung, die das Wiener Team zur Berechnung nutzte, nennt sich Dichtefunktionaltheorie. Nun liegen die ersten Ergebnisse vor, die als Preprint veröffentlicht wurden. Sie zeigen, dass das Material eigentlich ein Isolator sein sollte, der keinen Strom leitet. Doch der Einbau von Fremdatomen in die Kristallstruktur, sogenanntes Dotieren, könnte es in einen Supraleiter verwandelt haben. Die Berechnungen von Held und Si deuten jedenfalls darauf hin, dass durch Dotieren ein neues Energieband entsteht, in dem Elektronen fließen können. Diese Ergebnisse decken sich mit jenen dreier anderer internationaler Theoriegruppen.

"Wir sehen relativ flache Linien in der Bandstruktur, und man weiß, dass es verschiedene Mechanismen gibt, die bei einer solchen Bandstruktur zu Supraleitung führen können", sagt Held. Das passe zur Möglichkeit, dass es sich bei LK-99, mit geeigneten Anpassungen, um einen Supraleiter handeln könnte. "Bestätigt wird das von einer anderen Arbeitsgruppe aus Peking, die bei ersten Experimenten zum Ergebnis kam, dass es sich bei LK-99 um einen paramagnetischen Isolator handelt. Man muss das Material dotieren, um die Bandstruktur zu erhalten, die potenziell Supraleitung ermöglicht."

Eine Demonstration des Meißner-Ochsenfeld-Effekts. Hier schwebt, anders als gewöhnlich, der Magnet über dem Supraleiter und nicht umgekehrt.
Harvard Natural Sciences Lecture Demonstrations

Woher das Schweben stammt

Es wäre denkbar, dass LK-99, wenn es über einem Magneten schwebt, auch ein gewöhnlicher Diamagnet sein könnte, betont Held. "Das wurde in den letzten Tagen auch immer wieder vermutet", sagt der Forscher. Laut den neuen Rechnungen sei das aber weniger wahrscheinlich geworden. "Die elektronischen Eigenschaften, die wir ausgerechnet haben, lassen nicht erwarten, dass LK-99 ein Diamagnet ist. Im Gegenteil: Angesichts der Verteilung der Elektronen würde man eher vermuten, dass LK-99 paramagnetisch sein sollte." Das bestätigt experimentelle Arbeiten aus Peking und legt nahe, dass hinter dem Schweben der Proben tatsächlich Supraleitung stecken könnte.

Bis man Genaueres weiß, wird es noch eine Weile dauern. Lang nennt die von "Science" angedeutete Frist von einer Woche zu optimistisch. Vorsicht sei weiterhin angesagt, betont Held: "Es gibt noch immer sehr gute Gründe, skeptisch zu sein. Mein Geld würde ich derzeit nicht darauf wetten, dass es sich hier tatsächlich um einen Hochtemperatur-Supraleiter handelt – zumindest nicht bei einer Wettquote von 1:1. Aber die Ergebnisse zeigen zumindest, dass LK-99 tatsächlich ein sehr interessantes Material ist, das nähere Aufmerksamkeit verdient hat."

Aufregend ist die Situation also allemal, gerade für die Fachleute aus der Supraleiterforschung. Die bekannt kritische Physikerin und Wissenschaftskommunikatorin Sabine Hossenfelder glaubt nicht an einen Durchbruch, meint aber, wenn mehr Fachleute begännen, ihre Laborarbeit auf Twitch zu streamen, sei das Erfolg genug. (Reinhard Kleindl, 3.8.2023)