Der bizarr geformte Staat "links außen" auf der Skandinavischen Halbinsel sieht schon auf der Landkarte so aus, als müsse jeder einmal im Leben unbedingt hin. Und mittlerweile war auch schon fast jeder dort – könnte man jedenfalls meinen, wenn man sich auf Instagram umsieht. In den bilderbuchähnlichen Vertretern sozialer Medien tummeln sich hunderttausende Ansichten von der ausgefransten Küste mit ihren langen blauen Zungen, die weit in eine graugrüne Landmasse hineinstechen: Fjorde, überall diese herrlichen Fjorde! Und auch die jungfräulichen Gletscher und unbeleckte Felskanzeln wie der Preikestolen, Orte, an denen täglich nur wenige Tausende Menschen Selfies machen, verheißen: Natur, nix als die reine Natur! So ungezähmt nordisch, dass man sie irgendwann einmal gesehen haben muss. Wie neulich auf Netflix in der Serie "Vikings", die halt blöderweise zur Gänze in Irland gedreht wurde.

Norwegen wird ganz ohne Ironie immer mehr Sehnsuchtsort für Outdoorfans und Wildcamper. Vor allem letztere Gruppe erhofft sich von dem Land, dort einen lange gehegten Traum erfüllt zu bekommen: einfach im Campervan herumzudüsen und überall dort stehenzubleiben, wo man will. Denn Norwegen ist wohl der bekannteste Protagonist des skandinavischen "Jedermannsrechts", das allen Menschen grundlegende Rechte bei der Nutzung der Wildnis wie das Campieren und Feuermachen erlaubt. Dieses "Recht aufs Wildcampen" lässt sogar Menschen in Wohnmobilen herumfahren, die den Aufenthalt auf schrebergartengleichen Campingplätze verabscheuen. Der Problem an der Sache ist nur: Die Anzahl der Campingfahrzeuge in Europa ist den vergangenen Jahren enorm gestiegen, und die Anzahl derer, die damit nach Norwegen fahren, ebenfalls.

Campingfahrzeuge am Lovatnet
Wildcampen auf Norwegisch sieht manchmal schon recht geordnet aus.
Sascha Aumüller

Nun ist es so, dass Norwegen nach wie vor über so viel "Gegend" verfügt, dass unbehelligtes Herumstehen in dieser weiterhin möglich bleibt. Auch wurde die Landschaft im Westen Skandinaviens nicht über Nacht weniger spektakulär. Es zeichnet sich jedoch mit der großen Anzahl an Campern bereits eine Entwicklung ab, die freies Stehen in insgesamt geordnetere Bahnen lenkt. So befinden sich an den topografisch bedingt wenigen infrage kommenden Stellplätzen an gut besuchten Fjorden meist schon Campingplätze. Die sind in Norwegen überraschend günstig, die Gastgeber allerorten entspannt und sympathisch. Aber ganz alleine bleibt man an solchen Orten klarerweise nicht. Und wer nicht früh genug am Tag ankommt, muss damit rechnen, dass alle Plätze belegt sind. Das wiederum ist in einem Land, wo freies Stehen grundsätzlich erlaubt bleibt, zwar kein Problem. Es kommt aber vor, dass der spontan gefundene Spot für die nächste Nacht nicht an einer Flussbiegung perfekt zum Lachsfischen liegt, sondern auf dem nächstgelegenen Parkplatz hinter dem Supermarkt.

Freies Stehen mit mehr Freiheiten

Also alles aus und vorbei mit der großen Freiheit des "Wildcampens"? Keineswegs, nicht einmal in Norwegen. Was korrekterweise "freies Stehen" mit einem Camper bezeichnet, ist aber etwa auch im Baltikum möglich. Wie ein Selbstversuch an zwei aufeinanderfolgenden Saisonen ergeben hat, dort sogar mit relativ mehr Freiheiten oder auf einen Punkt gebracht: Die große Freiheit versteckt sich heute eher in Estland und nicht mehr in Norwegen. Warum? Ein wesentlicher Aspekt davon ist das deutlich geringere touristische Aufkommen im Baltikum. Es wird "Wildcampern" aber auch aktiv etwas angeboten. So können Besuchende kaum fassen, dass die estnische Forstverwaltung RMK überall im Land an den schönsten Plätzen an den Küsten oder in den Wäldern kostenlos Stellplätze für Camper mit Bänken, Tischen und sogar Feuerstellen anbietet, für die sogar noch gratis das Brennholz zur Verfügung steht. Ein tolles Angebot vor allem auch für Bürgerinnen und Bürger des Landes, die sich vielleicht nicht alle einen teuren Urlaub leisten können, aber ein paar schöne Tage mit dem Zelt in herrlicher Natur verbringen wollen.

Ein Campingvan auf einer Wiese in Lettland.
Auf weitläufigen Wiesen wie dieser in Lettland darf man im Baltikum frei übernachten.
Sascha Aumüller

Viele Esten sind wie übrigens etliche Menschen in den Nachbarländern Lettland und Litauen begeisterte Benutzer der Welt da draußen und campen gerne. Der Natur sieht man das nicht an, so sehr wird auf sie geachtet, und die sauberen Campingplätze – ob nun zu bezahlen oder nicht – wirken nie wie Orte einer organisierten Outdoorindustrie. Das heißt: Es wird überall auf den Plätzen der Forstverwaltung für Respektabstand zum Nachbarn geachtet, was zumindest den Eindruck vermittelt, als wäre man beinahe alleine mit der Natur. Auch abseits dieser Plätze findet man immer wieder schöne und völlig legale Orte für sein natürliches Nachtlager.

Sorgen eines Selbstversorgers

Neben dem Argument spontaneren Wildcampens im Vergleich zum vielbesuchten Norwegen gibt es für Vagabunden im Baltikum aber noch weitere Vorteile. Wer vom angesprochenen norwegischen Supermarktparkplatz nach einer ruhigen Nacht zum Einkaufen ins Geschäft geht, wird fast immer dieselbe Erfahrung machen: Das Angebot ist ungeachtet des Firmennamens auf dem Einkaufswagerl fast überall identisch, die Qualität der Lebensmittel ist mau, und so etwas wie ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis scheint in Norwegen nicht zu existieren. Wer nicht nur deshalb selber als Camper kocht, weil norwegische Gasthäuser so rar wie teuer wie uninteressant sind, steht dann schon einmal frustriert hinter dem Gasherd oder am Grill. Während man in Norwegen also sowohl als Gasthausgeher als auch als Selbstversorger fast überall enttäuscht wird, liegen die Qualität und das Preisniveau in baltischen Supermärkten deutlich über jenen in Österreich.

Der nördlichste Punkt Estlands
Am nördlichsten Punkt Estlands hat man diesen Blick aus dem Camper.
Sascha Aumüller

Noch einen Aspekt sollten Wildcamper bedenken, die sich deshalb mitten in die Landschaft parken, weil sie der Natur möglichst nahe sein wollen: In Norwegen tritt beim Herumtingeln im Camper eine Art Fear-Of-Missing-Out-Effekt ein. Man hat Angst, etwas zu verpassen. Beim Versuch, vom höchsten je auf Instagram gesehenen Wasserfall schnellstmöglich zu den Moschusochsen aus der neulich gesehenen Tierdoku auf dem Disney Channel zu kommen, bleibt im Wortsinn die meiste Natur auf der Strecke. Die Straßen in Norwegen sind eng und kurvig. Wer sich zu lange Fahrdistanzen für einen Tag vornimmt, sieht mehr vom Volant und weniger von Norwegen. Im Baltikum dagegen kommt man nicht nur schneller auf oft schnurgeraden Straßen voran, die ansprechende Landschaft ist auch noch nicht so präsent auf sozialen Medien oder in Serien. Das stachelt die meisten Menschen an, selbst Entdeckungen zu machen und die eingesparte Fahrzeit tatsächlich in der Natur mit Wandern oder Radfahren zu verbringen. Oder kürzer: Es muss, ja sollte vielleicht gar nicht immer Norwegen sein, wenn man gerne als freier Camper unterwegs ist.

Alternative Empfehlungen vom Profi

Über Alternativen in Europa weiß auch der Österreichische Camping Club (ÖCC) gut Bescheid. In Österreich ist freies Stehen mit dem Zelt oder Campingfahrzeug – umgangssprachlich eben "Wildcampen" genannt – allerdings größtenteils verboten. Je nach Bundesland unterscheiden sich die Regelungen, daher sollten sich Campende, die einen Urlaub im eigenen Land planen, vorab genau informieren. Im Burgenland ist zelten mit weniger als zehn Personen für drei Nächte gestattet, in der Steiermark ist freies Stehen für eine Nacht meist auch kein Problem. In den weiteren Bundesländern ist "Wildcampen" nicht erlaubt – die Strafen sind je nach Bundesland verschieden hoch.

Auch im europäischen Ausland gibt es keine einheitliche Regelung zum Wildcampen. Generell verboten ist das Campen in ganz Europa in Nationalparks und Naturschutzgebieten sowie auf landwirtschaftlich genutzten Flächen. Auf privaten Grundstücken darf nur mit Erlaubnis der Eigentümerinnen und Eigentümer übernachtet werden. "Will man in Europa campen, sollte man sich vorab genau informieren, wo freies Stehen erlaubt ist", sagt Tomas Mehlmauer. Die Empfehlung des ÖCC lautet dennoch, einen offiziellen Stellplatz oder Campingplatz anzufahren, wie vom Präsident des ÖCC zu vernehmen ist.

Einige Länder sind besonders streng und verbieten das Campen außerhalb von gekennzeichneten Campingplätzen gänzlich – darunter Kroatien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Portugal und Griechenland. In anderen Ländern wiederum gibt es zeitliche Befristungen für freies Stehen. "So ist es in Deutschland gestattet, zur Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit einmalig für maximal zehn Stunden zu übernachten. In Belgien darf man höchstens 24 Stunden am Stück abseits offizieller Stellplätze pausieren", weiß der ÖCC-Experte. Um im öffentlichen Raum campen zu können, sollte man sich in Italien, der Schweiz und Polen bei den örtlichen Behörden nochmal vergewissern, dass kein Verbot besteht. In Frankreich ist es nicht erlaubt, in der Nähe der Küste und bei Sehenswürdigkeiten frei zu stehen.

Im Norden weniger Einschränkungen

In Norwegen, Schweden oder Finnland und im Baltikum ist es dagegen mit kleinen Einschränkungen erlaubt, mehrere Nächte in der freien Natur zu verbringen. Einige grundsätzliche Regeln sollte man dabei aber beachten: "Wo freies Stehen toleriert wird, sollte man sich rücksichtsvoll verhalten – also nur den nötigsten Campingbetrieb durchführen, möglichst leise sein und keinen Mist zurücklassen", betont Mehlmauer. Offenes Feuer sollte besonders im Waldgebiet vermieden werden.

Eine Alternative zum Wildcampen bieten immer mehr Konzepte für Gastgeberinnen und Gastgeber aus dem ländlichen Raum. Gegen eine einmalige Gebühr bekommt man Zugang zu einem großen Netzwerk aus landwirtschaftlichen Betrieben, bei denen das Privatgrundstück für maximal 24 Stunden als Stellplatz genutzt werden darf – Kontakt zu den Leuten und Zugang zu deren landwirtschaftlichen Produkten meist inklusive. Diese Konzepte ermöglichen quasi naturnahes Camping mit menschelnden Benefits. So gibt es beispielsweise in Österreich Bauernleben oder Schau aufs Land, das zusätzlich auch in Slowenien verfügbar ist. Für Campierende, die ins Ausland reisen, gibt es überall in Europa ähnliche Systeme unter dem Dachverband der Fefi; in Italien Agricamper Italia, in Frankreich France Passion, in Spanien die Espana Discover, in der Schweiz PlaceToBee und in Deutschland das Landvergnügen. Im Baltikum ist dieses System übrigens noch nicht verbreitet, dafür aber Norwegen. Über Nortrip einen Stellplatz auf einem Bauernhof zu nehmen, führt natürlich gezielt an der Einsamkeit vorbei. Das Problem mit den schlechten teuren Produkten aus dem Supermarkt wird dadurch aber oft gelöst. (Sascha Aumüller, 13.8.2023)