Der Ursprung des Sambesi wird gemeinhin im Nordwesten Sambias verortet. Der Fluss, der das südliche Afrika in West-Ost-Richtung durchschneidet, speist die Victoriafälle – die größten Wasserfälle der Welt – und mündet schließlich in Mosambik in den Indischen Ozean. Als eine der zentralen Lebensadern des Kontinents versorgt er Millionen Menschen mit Wasser und Elektrizität. In der kolonialen Geschichte des 19. Jahrhunderts erkundeten einst bekannte Afrikaforscher wie David Livingstone und der Portugiese Alexander da la Roche de Serpa Pinto als erste Europäer den Oberlauf des Sambesi.

Doch die Zeit der großen Entdeckungen ist noch nicht vorbei. Das glaubt zumindest der Südafrikaner Steve Boyes, der in den vergangenen sieben Jahren mit seinen Teams zahlreiche Expeditionen zu den Flusslandschaften Sambias und des benachbarten Angola unternommen hat. "Wir haben alle wesentlichen Zuflüsse des Sambesi erkundet und sind dem Hauptstrom selbst bis zu den Victoriafällen gefolgt", resümiert Boyes. "In einer kommenden Wissenschaftspublikation werden wir den wasserreichen Lungwevungu, der im Hochland Angolas entspringt, als den primären, tatsächlichen Ursprung des Sambesi identifizieren." Die Arbeit soll noch dieses Jahr erscheinen und werde dem Biologen zufolge "die Geschichte ein wenig umschreiben".

Luftaufnahme: Sonnenuntergang über dem Oberlauf des Lungwevungu-Flusses, Angola.
Der Lungwevungu-Fluss ist der Ursprung des Sambesi, der wiederum die Victoriafälle speist.
Rolex/Jennifer Guyton

200 Expeditionen in acht Jahren

Boyes hat sein Leben dem Naturschutz und der Erforschung weitgehend unbekannter Ökosysteme in Afrika gewidmet. Seit 2015 fokussiert der 1979 geborene Naturschützer auf die Erforschung der verzweigten Flussökosysteme zwischen Okavango und Sambesi. Im Rahmen seiner Expeditionsreihe "Great Spine of Africa" sollen letztendlich die Quellbereiche und Verläufe aller großen Flüsse des Kontinents erforscht werden. Das Vorhaben ist geradezu monumental: "Für die kommenden acht Jahre sind 200 Expeditionen geplant. Es ist das größte nichtmilitärische Vorhaben dieser Art in der Geschichte Afrikas", gibt sich Boyes unbescheiden.

Bis zum Jahr 2030 sollen auf diese Weise "ökologische und hydrologische Ausgangsdaten für die Flusssysteme" etabliert werden. Eine Übersicht über den Status quo ermöglicht dann ein kontinuierliches Monitoring sowie groß angelegte Analysen zur Wasserversorgung. Denn das ist einer der Hauptnutzen der Unternehmung: "Zwei Drittel aller Afrikaner sind auf das Wasser aus den Einzugsgebieten der Flüsse angewiesen, für ihre Ernährung und für die Wirtschaft", sagt Boyes, der bei seiner Arbeit mit einer Reihe von Regierungsorganisationen zusammenarbeitet. Für ihn ist gerade angesichts des Klimawandels Wassersicherheit eines der wichtigsten Zukunftsthemen des Kontinents.

Ein Mann hockt am Rande eines Flusses und hält ein längliches Instrument in das Wasser.
Forscher Steve Boyes sammelt mit einem Instrument Daten zur Wasserqualität des Lungwevungu-Flusses.
Rolex/Jennifer Guyton

Im Rahmen einer Expedition im vergangenen Jahr fuhr Boyes den Lungwevungu entlang, den er künftig als den neuen Ursprung des Sambesi verorten möchte. Mithilfe traditioneller Kanus, sogenannter Mekoros, arbeitete sich das Team samt wissenschaftlicher Ausrüstung den Fluss hinunter, der in zahlreichen Schlingen durch die Moorlandschaften von Angolas Hochland mäandert. Die portugiesischen Entdecker nannten die unzugängliche Gegend hier einst "Land am Ende der Welt".

"Street View" für Flüsse

Man identifizierte Fischspezies, nahm Proben für Umwelt-DNA-Analysen, vermaß die Flüsse mit hochspezialisierten Strömungsmessgeräten, machte Drohnenaufnahmen oder dokumentierte menschliche Aktivität am Fluss. Unter anderem soll eine Art "Street View" der Flusslandschaft entstehen. "Wir wissen nicht, wie diese Flüsse im 19. Jahrhundert genau ausgesehen haben. Aber wir werden im Jahr 2050 genau wissen, wie sie heute ausgesehen haben", resümiert Boyes.

Sechs bis acht Stunden pro Tag saßen die Flussforscher in ihren Mekoros. Zu den gefährlichsten Begegnungen gehören jene mit Flusspferden, zu den lästigsten jene mit den omnipräsenten Stechmücken, erinnert sich der Biologe. "Es gibt aber auch viele berührende Momente, etwa wenn man Bewohner der Gegend trifft und diese von Wassergeistern und magischen Kreaturen erzählen, die man an heiligen Stätten trifft." Meist sei man der Erste, der jemals Fotos von diesen Menschen und Landschaften anfertige. All diese Daten und Erfahrungen könnten Satellitenaufnahmen nicht leisten.

Insgesamt wurden im Zuge der Expeditionen 143 unbekannte Spezies in diesem Gebiet entdeckt. Doch ein vielleicht noch größerer Nutzen ist es, das Wesen dieses aquatischen Ökosystems zu erfassen. Boyes nennt das Hochland Angolas einen "Wasserturm". Er meint damit ein hochgelegenes, regenreiches und bewaldetes Einzugsgebiet, das durch seinen Moorcharakter enorme Mengen an Wasser speichern und abgeben kann. "Vor zehn Jahren waren Torfmoore dieser Art im tropischen Afrika noch gar nicht bekannt", sagt der Naturschützer. "Nun glauben wir, dass die Torflager im Hochland Angolas die größten in ganz Afrika sind." Wissenschaftskollegen Boyes charakterisierten den Wasserturm kürzlich im Journal Environmental Monitoring and Assessment.

Eine Gruppe von Menschen auf einem Fluss, jeweils zwei Personen sitzen in einem länglichen Ruderboot aus Holz
Die Expeditionsgruppe bewegt sich auf dem Fluss mit Mokoros, traditionellen Einbaumbooten, fort.
Rolex/Jennifer Guyton

Klimwandelgefahr

Die Wassertürme, die laut Boyes in ganz Afrika in unterschiedlichsten Ausprägungen zu finden seien, agieren wie ein Schwamm. Sie können auch in trockenen Zeiten Wasser abgeben und die Landstriche flussabwärts versorgen. Gerade im Zusammenhang mit dem Wetterphänomen El Niño, das im südlichen Afrika regelmäßig für Trockenheit sorgt, ist diese Pufferfunktion extrem wichtig. Gleichzeitig sind die Moore riesige Kohlenstoffsenken, denen im Kontext des Klimawandels eine wichtige Bedeutung zukommt. Noch sei das System stabil und weit von einem Kippen entfernt, beruhigt Boyes. Langfristig könnten die Wassertürme Afrikas jedoch der Klimakatastrophe zum Opfer fallen – was verheerende Folgen hätte. Eine davon: Massenmigration. Deshalb sei es auch so wichtig, Schutz und Nutzung der Ökosysteme zu koordinieren und zu überwachen.

In diesem Zusammenhang entstünden auch politische und diplomatische Konsequenzen in der Region, sollte durch die wissenschaftliche Arbeit von Boyes und Kollegen der Ursprung des Sambesi verlegt werden. Anders als bisher gedacht, wäre Sambia demnach fast vollkommen von Wasser abhängig, das aus Angola kommt. Die Regierungen müssen zusammenarbeiten, um das Wasser-Einzugsgebiet zu schützen, Tourismusrouten zu entwickeln und grenzüberschreitende Schutzgebiete zu schaffen, zählt der Biologe auf. Ähnliches gilt aber auch für die weiteren Moore des Kontinents. Boyes: "Für die Zukunft Afrikas und seine Wassersicherheit ist es entscheidend, die Wassertürme, ihre Funktion und ihre Resilienz gegenüber dem Klimawandel zu kennen und sie gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung zu schützen." (Alois Pumhösel, 25.8.2023)