Andacht für den toten Leon
Leon, der Löwe, liebte Tiere. Eine Andacht erinnert mit einem Kuscheltier an den toten Sechsjährigen.
Elias Holzknecht

Die Gemeinde Waidring in Tirol bezeichnet sich stolz als "das Glockendorf" Österreichs. Direkt gegenüber dem Gemeindeamt sind Inschriften angebracht, die aufzeigen, wo überall auf der Welt der kupferne Klang Waidringer Handwerkskunst zu hören ist: Waidringer Glocken erklingen in Regenwaldsiedlungen Paraguays und Brasiliens, auf Farmen in Ohio und Australien. Und man könnte meinen, dass das genug Weltläufigkeit ist für einen Ort, der eigentlich nicht mehr ist als eine Ansammlung von Bauernhäusern entlang einer Straße. Doch vor einem Jahr stand Waidring durch eine ganz andere Nachricht in den Schlagzeilen, selbst in Australien berichtete man.

28. August 2022: ein sechsjähriger Bub, Leon, ertrunken im Fluss.

Der Vater sagt, er sei mit seinem Sohn spazieren gewesen, als sie überfallen worden seien. Dann sei es zu einer Aneinanderreihung unglücklicher Umstände gekommen. Leons Tod, eine Tragödie.

Im Februar dieses Jahres, neue Schlagzeilen: "Raub nur vorgetäuscht: Vater nach Tod von Leon (6) unter Mordverdacht". Hat Florian A. seinen kleinen Sohn ertränkt?

Ein totes Kind, hier?

In Waidring hängen an diesem Montagvormittag im Hochsommer 2023 schwere Wolken über der Steinplatte. Auf dem Platz vor dem Friedhof toben Kinder, die Stühle vor der Bäckerei sind gefüllt. Ein kleiner Mann mit Bartstoppeln schlendert vorbei. In schnoddrigem Berlinerisch erzählt er, dass er vor 30 Jahren durch eine Urlaubsbroschüre auf Waidring aufmerksam geworden sei. Seitdem sei er jedes Jahr hier, jeweils drei Wochen. Der Ort sei wie eine Familie, ganz anders als die anonyme, die "unmenschliche" Großstadt. Alle grüßen, und am besten sei der Sommermusikabend jeden Freitag, Bläser in Tracht marschieren dann durch die gefüllte Straße, er, ein Stamperl Kräuterlikör geext, vorneweg. Von einem Leon habe er nichts mitbekommen, nein. Ein totes Kind, hier in Waidring?

Hört man sich im Dorf um, bei der Wirtin im Biergarten etwa, beim Trafikanten oder beim Bäcker, dann laufen die Gespräche auf zwei verschiedene Weisen ab. Kaum hat man Leon erwähnt, verschwindet die strahlende Freundlichkeit aus den Gesichtern. Das sei hier im Ort kein Thema, sagen die einen. "Kein Kommentar", die anderen. Von den Auskunftsfreudigeren erfährt man: Ja, gelegentlich würden sie die Mutter im Ort sehen, gemeinsam mit der Kleinen, Leons Schwester, vier Jahre alt. Seltener als früher zwar, aber doch hin und wieder. Man versuche, normal zu sein, nett. Was wirklich passiert sei, das wisse niemand.

Öffentliche Einblicke

Weiterhin gilt die Unschuldsvermutung. Und auch wenn Florian A. noch immer in Untersuchungshaft sitzt, so sagt das nichts darüber aus, ob er seinen Sohn wirklich getötet hat. Der Oberste Gerichtshof argumentiert, er könne – sollte sich der Verdacht bestätigen – gleichartige Taten wieder begehen. Deshalb bleibt er in Haft. Florian A.s Anwalt sagt, sein Mandant sei schockiert über die Vorwürfe. Er habe seinen Sohn geliebt.

Weder der Angeklagte noch dessen Frau, Sandra A., will sich zu den Vorwürfen äußern – vorerst. Es lassen sich aber Unmengen an Informationen zur Familie im Internet auffinden. Etwa der Blog, auf dem das Ehepaar Spendengelder für Leon gesammelt hat: Denn der Bub litt an einem seltenen Gen-Defekt, der ihm ein "normales" Leben unmöglich machte. Der Blog ist ein Familientagebuch, das über die schönen Momente berichtet, aber auch Augenblicke des Ärgers und der Verzweiflung nicht ausspart. Zudem sind Florian und Sandra A. in etlichen Fernseh- und Radiobeiträgen oder Podcasts aufgetreten. DER STANDARD hat all diese Informationen ausgewertet und sich mit Menschen unterhalten, die der Familie A. nahestanden. Daraus ergibt sich ein Bild über die Ereignisse im Vorfeld der Tat. Auch wenn nichts davon Schlüsse darüber zulässt, ob Florian A. seinen Sohn wirklich getötet hat, gibt es doch Einblicke in ein Familienleben, das von einem zermürbenden Hin und Her aus Hoffnung und Verzweiflung geprägt ist. Und ja, wohl auch von großer Liebe.

Ein kleiner Kämpfer

Im Jahr 2010 entscheidet sich Florian A., ein junger Gebirgsjäger-Unteroffizier, beruflich umzusatteln: Im kanadischen Toronto lässt er sich zum Personal Trainer ausbilden. Florian ist fitnessbegeistert: In seiner Zeit in Kanada sei er zum Spaß die Treppen von Wolkenkratzern hochgelaufen. Eine Bestsellerautorin, die mit ihm 2012 ein Buch veröffentlicht, bezeichnet ihn als Mann, der "nur aus Muskeln und Sehnensträngen" bestehe. Auf dem Karrierenetzwerk Linkedin schreibt Florian A., sein Ziel sei es, anderen Menschen mit "Motivation und innerer Stärke" dabei zu helfen, ihre Ziele zu erreichen. Sein Buch ist deshalb ein "Schweinehunderziehungsratgeber". Florian A. ist überzeugt: Wer will, kann alles schaffen.

Dann wird seine Frau Sandra schwanger.

Erst halten die Ärzte eine Fehlgeburt für wahrscheinlich. Doch als im vierten Monat alles gut zu laufen scheint, beschließt das Paar, Freunden und Familie Bescheid zu geben. "Der kleine Mann hat sich durchgeboxt", sagt Florian A. in einem Podcast. Auch Leon ist offenbar ein Kämpfer. Am 5. Juli 2016 hält Florian seinen Sohn das erste Mal im Arm: "Von dem Zeitpunkt war klar: Für den kleinen Menschen mache ich alles."

Doch Leon entwickelt sich laut Aussage des Vaters nicht wie erhofft. Er krabbelt nicht wie andere Kinder. Manchmal lernt er etwas, vergisst es aber wieder, etwa das Essen mit dem Löffel. Die Familie sucht etliche Ärzte auf, etliche Spritzen werden in den Kinderkopf gestochen. Weiße Kittel ängstigen Leon, der früher so fröhliche Junge wird immer misstrauischer, er schreit und zappelt. Die Ärzte versuchen, die besorgten Eltern zu beruhigen: "Man könne in dem Alter noch nichts sagen." Abwarten.

Waidring in Tirol
Waidring in Tirol, das Heimatdorf des Buben.
Elias Holzknecht

Die Diagnose

Bei einer Untersuchung, die offenbar Anfang 2018 stattfindet, pocht A. schließlich auf eine Gen-Analyse. Als der Genetiker den Vater in seine Praxis bestellt, erklärt er ihm zunächst einige medizinische Hintergründe. Dann kommt er zur Diagnose: Leon leide am Syngap-Syndrom. "Wir wissen nur von 45 weiteren Fällen weltweit", sagt er. In diesem Moment denkt sich Florian A.: "Das ist nicht gut – je weniger, desto schlechter." Einige Sekunden verstreichen, dann fragt er, was das bedeute. Der Genetiker zählt auf: "Starke geistige Behinderung, Epilepsie, Autismus." Als Florian A. das Krankenhaus verlässt, ist der Himmel schwarz, es schüttet – und er fängt an zu weinen; das erste Mal seit seiner Kindheit. Der Moment sei beinahe befreiend gewesen, sagt er im Podcast. Durch den Regen läuft er zu seinem Auto, im Kindersitz auf der Rückbank sitzt Leon: "Ich habe ihn so gern, den kleinen Kerl." Da begreift er: Leon wird vielleicht niemals sprechen, keinen Führerschein, keine Ausbildung machen, keine Familie gründen können. Etwas in ihm sei zerbrochen: "Nie hatte ich das Gefühl, etwas nicht schaffen zu können", sagt er. Diesmal ist er sich nicht sicher.

Laut Florian A. dauert die Schockphase zwei Wochen – dann beschließt die Familie zu kämpfen, so wie immer, im Sport und im Beruf. Im Juni 2018 stellt Sandra A., die Ehefrau, Kontakt zu einem Forscher her, der in diesem Text anonym bleiben möchte. Er soll ihnen helfen, Forschungsprojekte und Gelder zu beantragen. Der Forscher beschreibt Sandra A. als "starke Persönlichkeit", eine "bärenstarke, kämpfende Mama". Das habe ihn beeindruckt, deshalb sagt er zu. Das Ziel: Leon soll gesund werden.

Viel Geduld

Doch zunächst muss der Forscher Sandra A.s Enthusiasmus ein wenig bremsen: Es könne zehn, womöglich 13 Jahre dauern, bis sie überhaupt etwas herausfinden, erklärt er. "Aber, mit ein bisschen Glück, dann kann es vielleicht schneller gehen." Gerade im Bereich der Gentherapie mache man große Fortschritte: Die Krankheit sei Folge eines fehlenden oder mutierten Gens, das die Hirnaktivität über ein Protein reguliert. Durch die Therapie ließe sich womöglich eine Art "Extrafabrik" in die Zelle einbauen, die das Defizit behebt. Ganz so weit sei man bisher noch nicht, aber ja – vielleicht wäre nicht nur Besserung, vielleicht sogar Heilung möglich. Man weiß nie.

In den nächsten Monaten bringen sie Wissenschafter auf der ganzen Welt zusammen. Mit Instituten in Kalifornien und Schottland starten sie gemeinsame Projekte, bei einem Symposium nehmen 40 Wissenschafter teil. Sandra A., eine komplette Außenseiterin in der Wissenschaftswelt, gelingt es, ganz neue Voraussetzungen zu schaffen für eine bisher vernachlässigte Krankheit. Nebenbei veranstaltet die Familie unzählige Feste, bei jedem Fußballspiel in der Region stehen Spendenboxen , und Skistars wie Mikaela Shiffrin oder Marcel Hirscher lassen sich mit dem kleinen Leon ablichten. 300.000 Euro Spendengelder kommen so zusammen – dafür, dass Leon einmal ein "normales" Leben führen kann. Doch die Zeit drängt.

Ein verlorenes Jahr

Winter 2018: Leon ist zwei Jahre alt – ein Alter, in dem Kinder oft laufen lernen. Sandra und Florian berichten in ihrem Blog, er habe gelernt zu kauen – und zu "trompeten, wie ein Elefant". Leider spreche er aber noch immer kein einziges Wort. Und: Wenn er etwas haben wolle und nicht bekomme, reagiere er aggressiv, mit Kratz- und Beißattacken. Seine Augen zucken. Hoffentlich keine Epilepsie!

Frühjahr 2020: Leon ist jetzt dreieinhalb. Kinder reden in diesem Alter oft in Ich-Form, ziehen Schuhe an und aus, spielen mit Gleichaltrigen. Leon spricht noch immer nicht. Er wird nachts 15-mal wach, brüllt. Sie seien "an der Grenze der Belastbarkeit", schreiben die Eltern. In dieser Zeit verhängt Österreich den ersten Corona-Lockdown. Die Forscher können nur noch selten ihre Labore aufsuchen. Die Syngap-Projekte werden ein Jahr nach hinten verlegt. Ein ganzes Jahr, verloren, einfach so.

Weihnachten 2021: "Kein Glitzern in den Augen, wenn Leon den Adventkalender sieht", schreibt die Familie auf ihrem Blog. In Leons Leben gebe es kein Bewusstsein für Weihnachten, für Jahreszeiten. Kein Morgen, kein Gestern, keine Vorfreude und Erinnerung. Bis zu 70-mal am Tag hat Leon epileptische Anfälle. Er ist fünf.

14. Jänner 2022, ein halbes Jahr vor Leons Tod: Die Universität Edinburgh kündigt das gemeinsame Forschungsprojekt auf. Die Gründe: Brexit, Covid, Administratorisches. Zwar übernimmt die Universität Wien einen Teil. Laut dem Forscher haben sie aber mindestens zwei Jahre verloren.

Am 4. Juli 2022 wird Leon sechs.

Am 8. August erscheint ein letzter Beitrag mit Leon auf Facebook. Ein Video, Leon mit Tieren, rücklinks auf ein Pferd gelegt; wie er auf einen großen Bronzelöwen im Familienland Pillerseetal zuläuft, ihn umarmt. Leon, der Löwe, liebt Tiere: "Den Kälbchen würde er am liebsten den halben Unterarm hineinstecken, damit sie ihn abschlecken."

Eine Nacht, zwei Versionen

Drei Wochen später dann der 28. August. An einem Sonntagmorgen fährt Florian A. mit seinem Sohn in das angrenzende St. Johann, die genaue Uhrzeit ist unbekannt. Er setzt Leon in den Buggy und schiebt ihn die Redford-Promenade entlang, daneben fließt die Kitzbüheler Ache. Es ist dunkel, es regnet. An normalen Sonntagen werden hier Stunden später Familien flanieren, vielleicht haben sie eine Waffel von der nahen Eisdiele in der Hand. Die Bäume tragen um diese Jahreszeit sattes Laub, es duftet nach Sommer.

Dass Vater und Sohn so früh unterwegs sind, ist nicht ungewöhnlich. Das Rauschen des Flusses soll Leon beruhigen, ihm helfen, später einzuschlafen. Darüber, was jetzt passiert, existieren zwei Versionen. Version eins, die von Florian A.: Ein Unbekannter schlägt ihn von hinten mit einer Glasflasche nieder, er wird ohnmächtig, der Dieb nimmt A.s Geldbörse und Handy. Das Handy entsorgt er im Mülleimer, der circa zehn Meter entfernt ist; aus der Geldbörse stiehlt er die Scheine und schmeißt sie anschließend weg. Später findet ein Passant den ohnmächtigen Florian A. Da sei Leon bereits aus dem Buggy gestiegen, durch das Geäst zum Wasser geklettert, das ihn magnetisch anzieht.

Version zwei: Florian A. entsorgt das Handy bereits, während er am Mülleimer vorbeiläuft. Dann stößt er seinen Sohn ins Wasser, schlägt sich selbst die Flasche auf den Hinterkopf und stellt sich ohnmächtig, bis er gefunden wird.

Die Indizien: Da ist der Schrittzähler auf dem Handy des Vaters. Er weist eine zu geringe Anzahl an Schritten auf. Demnach muss er das Telefon bereits auf dem Weg zum Tatort entsorgt haben. Da ist ein Foto unbekannten Ursprungs: A. soll darauf zu sehen sein, wie er eine Flasche "Pink Hugo" im Buggy mitführt. Und da ist schließlich, ganz aktuell, die Google-Suche: Vor dem Vorfall soll A. nach dem Thema Ohnmacht recherchiert haben.

In der Ache ertrank der kleine Leon.
Elias Holzknecht

Unvorstellbar

Der Anwalt von Florian A. erklärt in einem Schreiben, sein Mandant wehre sich gegen "Vorverurteilungen und abenteuerliche Schlussfolgerungen" durch die Presseberichterstattung. Viele der Indizien seien im Laufe der Untersuchungen bereits entkräftet worden: Für die geringere Anzahl an Schritten könne es technische Gründe geben, das gehe aus einem Gutachten hervor. Außerdem seien von den 23 Scherben am Tatort lediglich zwei untersucht worden. Daran die DNA einer männlichen Person, bei der es sich nicht um A. handele. Leider seien durch die Polizei viele der Scherben unwiederbringlich verloren gegangen. Dass das Gericht die Gefahr sieht, sein Mandant könnte gleichartige Taten begehen und er deshalb in Untersuchungshaft bleiben muss, hält der Anwalt für schwer nachvollziehbar. "Aber da das gerichtlich so entschieden wurde, haben wir das zur Kenntnis zu nehmen."

Der Forscher, der Sandra A. bei der Beantragung der Gelder unterstützt hatte, sagt, er habe von Leons Tod über die Presse erfahren. "Da setzen sie sich so für ihren Sohn ein, und dann passiert sowas", habe er sich gedacht. Unvorstellbar. Kontakt habe er zu Sandra A. nicht mehr aufgenommen – er wollte die Familie lieber in Ruhe lassen.

Dabei gäbe es Positives zu verkünden: Die EU hat ein Projekt zu Syngap bewilligt. Ein Projekt, das ohne Sandra A. nicht möglich gewesen wäre. Vor einiger Zeit hatten sie Leon Stammzellen entnommen und eingefroren. Diese Stammzellen werden jetzt im Rahmen des Projekts genutzt. "Das ist schon eigenartig", sagt er. "Eines der wenigen Dinge, die von Leon weiterleben."

In Waidring bringt an diesem Tag eine ältere Dame in Hausschuhen gerade den Müll raus. Ja, sagt sie, sie habe Leon gekannt, ihre Stimme bricht. Dann erzählt sie, dass drei Viertel im Dorf der Familie geholfen hätten, wo sie nur konnten. Es gab aber eben auch das Viertel, das nichts von dem kranken Buben wissen wollte. Und das habe dann, als Leon tot war, gesagt, das Kind sei jetzt erlöst. So etwas könne nur denken, wer Leon nicht kannte.

Vor dem Haus der Familie A. ist zur Andacht an den toten Buben ein Kuscheltier platziert: ein kleiner Löwe. (Benedikt Herber, 12.8.2023)