In Weiß, Pink, Rot und Violett ranken die Blumen aus ihren Töpfen auf die Fahrbahn. Es sind viele kleine Farbtupfer im sonst so farblosen Stadtbild. Zu Hunderten stehen die Blumenkästen auf der Straße, verteilt zwischen Verkehrsschildern und rot-weiß gestreiften Absperrbaken, vollkommen ungestört. Dafür sorgt ein großes gelbes Schild: "Weesperstraat in Richtung Visserplein geschlossen, hier umdrehen". Und tatsächlich: Weit und breit ist kein Auto auf der mehrspurigen Fahrbahn zu sehen.

Es war ein ungewöhnliches Bild, das sich in den vergangenen Monaten in Amsterdam bot. 27.000 Autos täglich rollen normalerweise über die Weesperstraat durch das Zentrum der niederländischen Hauptstadt. Nicht so vom 12. Juni bis zum 23. Juli: Zwischen sechs Uhr in der Früh und 23 Uhr abends war die Weesperstraat für den Autoverkehr gesperrt. Neben den Blumenkästen sollten auch Schranken verhindern, dass die Menschen das Fahrverbot umgehen. Die Blockade, von den Einheimischen auch Weesperknip genannt, wurde nur in der Nacht und für Einsatzfahrzeuge aufgehoben.

Park statt Parkplätze

In der Mitte der Weesperstraat wurde ein kleiner Pavillon mit Kunstrasen und Picknicktischen aufgestellt. Anrainerinnen und Anrainer konnten die Fläche für gemeinsame Veranstaltungen nutzen – und haben so einen Eindruck davon bekommen, wie eine mögliche Neugestaltung der Gegend aussehen könnte. Neben der Weesperstraat wurden außerdem auch drei Querstraßen gesperrt, um zu verhindern, dass sich der Verkehr in die angrenzenden Wohngebiete verlagert.

Zwei Menschen fahren auf dem Rad über eine leere Straße
Des einen Freud ist des anderen Leid: Während Radfahrer und Fußgänger mehr Platz haben, gibt es für Autofahrer kein Durchkommen.
Judith Jockel / Eyevine / picturedesk.com

Dass Straßen für den Autoverkehr gesperrt werden und zu Fußgängerzonen, Fahrradwegen oder Parks werden, ist in der Radstadt Amsterdam nichts Neues. Mit der Weesperstraat ist nun aber eine der zentralen Verkehrsadern Amsterdams betroffen. In den Spitzenzeiten fahren bis zu 1.500 Autos stündlich über die Weesperstraat. Im Pilotversuch möchte die Stadt die Auswirkungen auf Verkehr, Lärm, Sicherheit und Luftqualität untersuchen. Vor allem für die Anrainerinnen und Anrainer erhofft man sich eine Entlastung: 70 Prozent der Haushalte im Bezirk Nieuwmarkt sind autofrei, aber trotzdem unmittelbar vom Verkehr betroffen. Nicht zuletzt macht die temporäre Sperre auch sichtbar, wie viel Platz der Autoverkehr in der Stadt einnimmt.

Reaktionen sind gespalten

Unumstritten war die Sperre der Weesperstraat, welche jahrelang von der Stadt vorbereitet wurde, jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Straßensperre wurde während der sechswöchigen Testphase zum Politikum. Mehrmals musste Verkehrsstadträtin Melanie van der Horst von den Democraten 66 ausrücken und das Projekt verteidigen. Anfang Juli wurde sogar eine Dringlichkeitsdebatte im Stadtrat einberufen, ein vorzeitiger Abbruch stand im Raum.

Besonders die Bewohnerinnen und Bewohner im Norden der Stadt beklagten, dass es durch die Blockade – in Kombination mit anderen Baustellen und Straßensperren – teilweise unmöglich geworden sei, zum eigenen Wohnort zu gelangen. "Wie ist es möglich, dass die Interessen der Bewohner so schlecht vertreten werden? Es kann nicht anders sein, als dass es von Beamten erdacht wurde, die selbst nicht im Zentrum wohnen", beklagte sich etwa eine Anwohnerin in der Tageszeitung "Het Parool". Für andere hingegen geht die Maßnahme nicht weit genug: "Die gesamte Stadt soll für Autos, die dort nichts zu suchen haben, gesperrt werden. Deren Fahrer können auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Was dann bleibt, ist ein sauberer, frischer und lebenswerter Ort für alle."

Blumentröge und Bäume stehen auf einer unbefahrenen Straße
Die Grünfläche inmitten der Weesperstraat wurde unter anderem für gemeinsame Veranstaltungen genutzt.
Judith Jockel / Eyevine / picturedesk.com

Schwimmbecken trifft auf Blechlawine

Wie heiß umkämpft der Straßenraum auch hierzulande ist, zeigt wohl das Aufregerprojekt im Sommer 2020: der Gürtelpool. An der Grenze zwischen dem siebten und dem 15. Bezirk wurde eine Erholungszone mit Kunstrasen, Liegestühlen und einem kleinen Schwimmbecken errichtet – inmitten des Wiener Gürtels, einer der am stärksten befahrenen Straßen Wiens. Sieben Fahrspuren wurden für die "Gürtelfrische West" drei Wochen lang gesperrt. Während die damalige grüne Vizebürgermeisterin Birgit Hebein das Projekt als "erfolgreiches Beispiel für alternative Stadtplanung" lobte, sah die Opposition darin Aktionismus und eine unnötige Verschwendung von Steuergeld. Knapp 200.000 Euro kostete der Badespaß.

Heute, genau drei Jahre danach, ist der Gürtelpool längst in Vergessenheit geraten. Von der einstigen Erholungszone und Maßnahme zur Verkehrsberuhigung ist nichts mehr übrig: An seiner Stelle rollen wieder hunderte Autos über die Straße. Der Grundgedanke, den Menschen den Straßenraum zurückzugeben, findet sich derzeit aber in vielen anderen europäischen Städten wieder.

"Jetzt herrscht Krieg"

Für Aufsehen sorgt derzeit auch ein ähnliches Projekt in München. 300 Meter der Kolumbusstraße im Stadtteil Au sind dort vier Monate lang für den Autoverkehr blockiert. Die Sperre ist Teil des Projekts Autoreduzierte Quartiere (AQT) der Technischen Universität München, das alternative Verkehrskonzepte testet. Anstelle der Straße befinden sich Hochbeete, Rollrasen und Sandkästen zum Spielen. Auch 40 Parkplätze sind vorübergehend weg, dafür gibt es E-Autos und Lastenfahrräder zum Ausleihen.

In der Kolumbusstraße mussten Asphalt und Autos für Rollrasen und Hochbeete Platz machen.
MCube Cluster for the Future of Mobility

Während vor allem Familien mit Kindern den Garten und die Spielfläche genießen, beklagen sich andere über die Lautstärke und den Dreck. Die Situation sei "unmöglich", es sei eine "Unverschämtheit, einen Sandplatz mit 40 lärmenden Kindern einen Meter vor das Schlafzimmer zu setzen", sagen Anwohnerinnen im Gespräch mit dem ZDF. Das soziale Klima habe merklich gelitten, Befürworterinnen und Gegner würden sich nur mehr anbrüllen: "Jetzt herrscht Krieg." Beim Aufbau der Hochbeete und Sandkästen habe sogar jemand mit Eiern geworfen, berichtet eine weitere Anwohnerin der "Taz". Gegnerinnen und Gegner sammelten bereits 140 Unterschriften von Anwohnenden für ein vorzeitiges Ende der Testphase. Auch die Münchner CSU fordert einen Abbruch, sollte sich eine Mehrheit gegen das Projekt aussprechen.

Kritik erwünscht

Er könne den Ärger der Menschen verstehen, sagt auch Oliver May-Beckmann, einer der Projektleiter der TU München. Man müsse jedoch auch bedenken, dass zwei Drittel der Anwohnerinnen und Anwohner kein Auto besitzen: "Sie können den öffentlichen Raum auf einmal für sich nutzen. Und das sind die Veränderungsprozesse, über die wir sprechen. Nicht über übers Wegnehmen und Geben, sondern: Wie verhandeln wir als Gemeinschaft Gemeinschaftsgut aus?" Alle zwei Wochen treten die Projektleiter im Rahmen einer Bürgersprechstunde mit den Bewohnerinnen in Austausch – Kritik sei explizit erwünscht. Auf diese Weise wolle man von den Anregungen der Anwohnerinnen lernen.

Während in München die Testphase noch bis Ende Oktober läuft, ist das Pilotprojekt in Amsterdam bereits abgeschlossen. Aktuell werden die Daten ausgewertet und Gespräche mit den Anwohnerinnen und ansässigen Unternehmen geführt. Die Ergebnisse sollen im Herbst im Stadtrat präsentiert und über die Zukunft der Weesperstraat entschieden werden. Doch egal, wie das Ergebnis am Ende ausfallen wird: Die Veränderungen im Straßenraum werden wohl nicht ohne weitere Diskussionen vonstattengehen. (Theresa Scharmer, 20.8.2023)