Demonstrantin zeigt mit Finger in die Höhe
Wie viel Aktivismus ist richtig? Das fragen sich nicht nur Protestteilnehmende, so wie hier bei einer Black-Lives-Matter-Demonstration.
imago images/Addictive Stock

Ich glaube, dass der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu ändern." Sagte der Philosoph Theodor W. Adorno. Im Jahr 1968. Als "Aktionismus" bezeichnete er den Aktivismus studentischer Revoltierender. Dabei war ihm historisch bewusst, dass 50 Jahre zuvor es bereits "Aktivisten" gab, deren Bewegung – ein Wort, das linguistisch ja in "Aktivismus" enthalten ist – sich allerdings seinerzeit rasch erschöpfte.

Knut Cordsen, "Die Weltverbesserer. Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?". € 20,60 / 144 Seiten. Aufbau, Berlin 2022.
Aufbau Verlag

Rebellion mit Geschichte

Knut Cordsen, Radioredakteur zu München, präsentiert in seinem Buch Die Weltverbesserer. Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft? den Unterbau von Fridays for Future, Letzte Generation, Ende Gelände, Extinction Rebellion und wie sich die Aktivistinnen und Aktivisten von heute selbst attribuieren. Dabei ist erhellend, wie weit sein historischer Horizont reicht. Ein dezidierter Gegensatz zu den von ihm Porträtierten. Deren Fokus ist, latent verzweifelt im Sinne Adornos, noch öfters agitierend und hypermoralisch, ausgerichtet strikt auf die Zukunft. Vergangenheit ist das Sammelbecken von Fehlern und Versäumnissen, die Gegenwart das Sprungbrett in ein besseres, nur durch sie mögliches Zukunftsstadium.

Das ist luftig geschrieben, mit nicht wenigen ironischen Anflügen, eine leichthändige Argumentation mit dem Florett. Und doch gibt es immer wieder Widerhaken. Denn er führt nicht wenige Zitate ins Feld, die im friedlichen Diskurs Sprengkraft entfalten. Cordsen schreibt einige Male vom Haberfeldtreiben, einem einst in Oberbayern betriebenen Rügeritual, bei dem Beschuldigten jeglicher Widerspruch unmöglich war, und der Parallele in den sozialen Schnappatmungs-Medien.

Christian Neuhäuser und Christian Seidel, "Was ist Moralismus? Über Zeigefinger und den Ort der Moral". € 6,20 / 112 Seiten. Reclam, Ditzingen 2022.
Reclam

Autistische Avantgarde

Christian Neuhäuser, der Philosophie in Dortmund lehrt, und Christian Seidel, Professor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie, reizvoll "KIT" abgekürzt, gaben 2020 den Sammelband Kritik des Moralismus heraus. Nun beugen sie sich in Was ist Moralismus? Über Zeigefinger und den Ort der Moral über denselben Kosmos von Aktivismus, Moral und Moralismus wie Cordsen. Jedoch gründlicher, hartnäckig grüblerisch und, als Professoren, systematischer.

Sie stellen Fragen wie: Was ist nun eigentlich Moralismus? Was ist falsch an ihm (und was an "aktivistischem Journalismus") – und was wird dabei rhetorisch suggeriert? Kann Moralismus auch nützlich sein? Macht öffentliche Kritik ihn besser – oder verhärtet sie ihn zu einer Form einer autistischen Avantgarde, die sich kompromisslos über Recht und Gesetz hinwegsetzt und andere Gesellschaftsströmungen disqualifiziert?

Wie so häufig in Reclams Reihe "Was bedeutet das alles?" ist das kompakt und informativ, dabei nicht ganz so nüchtern geschrieben wie andere Titel dieser Serie. Dass im Schlusskapitel über den praktischen Umgang mit Moralismus-Zeigefingern räsoniert wird, ist verdienstvoll. Das lebensweltliche Resultat, ein Plädoyer für Besonnenheit, Kritik und Selbstkritik, bleibt dann allerdings um ein Weniges hinter dem Niveau des als Einstiegslektüre mehr als geeigneten Textes zurück.

"Sobald der Staat die Bühne der Weltgeschichte betritt, geht er mit seiner Widersacherin schwanger: der Anarchie, der Idee einer von Herrschaft befreiten Gesellschaft." Der Berliner Publizist Thomas Wagner legt in seinen Auftaktsatz die gesamte intellektuelle Programmatik seiner Abhandlung mit dem Titel Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf. Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie.

Thomas Wagner, "Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf". € 25,70 / 272 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2022.
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Neue soziale Welten bauen

Es geht darin um antihierarchische Gesellschaftsmodelle im globalen Maßstab. Wagner wagt wie sein Vorbild David Graeber einen ausgreifenden Geschichtszugriff. Oft ist das mit einem Spektrum von Tausenden von Jahren so waghalsig wie beim Anthropologen, der 2011 einer der Köpfe hinter Occupy Wall Street war. "Wegziehen, ungehorsam sein und neue soziale Welten aufbauen."

Diese These Grabers führt er wörtlich an. Und schildert abwechslungsreich, mal extensiv wissenschaftliche Nachweise anführend, mal eher als Reportage, Flucht- und Reformbewegungen in die Freiheit, die, so Wagners Hypothese, die Widerspruch hervorrufen will und muss, neue Formen der Demokratie hervorbrachte: "Ganz entgegen einer weitverbreiteten Ansicht, waren es häufig nicht die Europäer, die den ‚Wilden‘ im Zeitalter des Kolonialismus die Idee der Demokratie schmackhaft machten oder sie ihnen verordneten, sondern es verhielt sich umgekehrt."

Diese Ideengeschichte, von den ersten Großstädten der Welt in Mesopotamien über China und Zentralamerika zu Piraten der Levante, ist lesenswert. Und dabei jeden Widerspruch wert. Denn Flucht war nicht durchgehend idealistischer Widerstand, aus dem beispielhaftes Miteinander, Freiheit und Harmonie entstanden.

Buchcover
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, "Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus". € 28,80 / 480 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022.
Suhrkamp

Gekränkte Freiheit

Driften. Eigentlich eine anmutige Vokabel für eine anmutig ausbalancierte Bewegung. Abdriften jedoch ist eindeutig negativ. Wieso, fragen sich Carolin Amlinger, Literatursoziologin an der Universität Basel, und Oliver Nachtwey, ebendort Soziologie-Ordinarius, driften große Teile einer progressiven Öffentlichkeit ab in einen Autoritarismus, der nicht reaktionär ist oder extremregulativ, sondern libertär bis zum anarchistischen Anschlag? Freiheit wurde in den Covid-Jahren von vielen reklamiert, Freiheit von Vorschriften, Einschränkungen, Zwängen. Finalpunkt dieser Kette war: die Freiheit von individueller Rücksicht und von gesellschaftlicher Solidarität. Wieso überschneiden sich Positionen eines liberalen Bürgertums inzwischen mit radikal autoritären?

Amlinger und Nachtwey bemühen im Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus den Psychologen Erich Fromm und Schriften der marxistischen Kritischen Theorie zum autoritären Charakter. Und haben zudem viele Interviews mit sogenannten Querdenkern geführt. Eine fordernde Lektüre ist das. Aber eine lohnende. Dabei unerquickliche. Denn das Fazit ist ermattend: Das Fühlen rückt immer stärker ins apolitische Denken, die eigene Subjektivität gerät zum einzig anerkannten Maßstab, Institutionen wird ein immer stärkerer Malus angehängt und ihnen die Legitimität abgesprochen. Daraus ergibt sich das Spezifikum der libertär Autoritären von heute: nicht auf einen Führer fixiert, sondern aufs eigene, so leicht zu kränkende Ego.

Was hilft? Vielleicht die Lektüre des klugen Bandes Liberalismus neu denken. Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Dessen Herausgeber Ralf Fücks, 20 Jahre lang Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, und Rainald Manthe stehen dem Berliner Thinktank Zentrum Liberale Moderne vor.

Ralf Fücks und Rainald Manthe (Hg.), "Liberalismus neu denken. Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen der Zeit". € 19,50 / 200 S. Transcript, Bielefeld 2022.
Verlag

Vorsicht. Rutschig!

Das Wort Liberalismus ist, so der englische Journalist Edmund Fawcett, "notoriously slippery", bekanntlich rutschig. Es fehlt beim Liberalismus die finale Sicherheit. Und zwar bewusst, verzichtet er doch auf anmaßende Bevormundung. Dabei ist er eine Erfolgsgeschichte: Der "Westen" gründet im Liberalismus, in dessen Freiheitsideen, seinen Rechtsprinzipien – Unversehrtheit der Person, Schutz des Eigentums, Meinungsfreiheit, Toleranz –, seiner Beförderung von Autonomie, Individualität und Fortschritt.

Andererseits ist sich der Liberalismus seiner selbst nie sicher. Er ist nicht selten neurotisch, neigt zu lähmenden Skrupeln, geht manchmal wie selbstverständlich im Mainstream auf. Ist das Grundproblem des Liberalismus, dass er an einen handlungsmächtigen, handlungswilligen Einzelmenschen glaubt in Zeiten von Spezialisierung, digitaler Miniatisierung und sozialer Atomisierung? Die 21 Essays legen kluge Anregungen für einen aktualisierten Liberalismus vor. Mehr an der Zeit als jetzt, im Angesicht von autoritären Gewalt- und Entrechtungs-Regimen, kann dies nicht sein. (Alexander Kluy, 19.8.2023)