Sammelband
Will kritisch sein, steht nun aber selbst in der Kritik: der Sammelband "Oh Boy".
kanon

"Ich will kein Täter sein, aber ich bin mindestens einmal einer geworden: Ich habe einen sexualisierten Übergriff begangen." Für unter anderem diesen Satz steht die vor einem Monat im Kanon-Verlag erschienene Anthologie "Oh Boy" (DER STANDARD berichtete) nun in der Kritik. Er stammt aus dem Textbeitrag "Ein glücklicher Mensch" des Co-Herausgebers Valentin Moritz, der Autor beschreibt darin einen Übergriff. "Ich berührte ihren Körper in einer Situation, in der ich hätte ahnen können, dass sie das nicht wollte", heißt es in dem Text weiters. Und: "Es war keine Vergewaltigung, bei weitem nicht. Aber eine Überschreitung körperlicher, nicht bloß verbaler, Grenzen."

Der Sammelband befasst sich mit Konzepten von Männlichkeit, es geht unter anderem um männliche Sozialisation, Homosexualität, Queerness, Patriarchat. Nun sah sich der Verlag aber zu einer Stellungnahme gezwungen. Denn in den sozialen Netzwerken sind Anschuldigungen gegen den Autor laut geworden. "Ich bin die Frau, die durch Valentin Moritz im Mai 2022 sexualisierte Gewalt erlebt hat", heißt es in einem Statement. "Ich bin die Frau, die seit Wochen eine nicht enden wollende emotionale Achterbahnfahrt durchlebt", weil überall das betreffende Buch "gefeiert" werde. Dabei habe sie sich bereits im August vergangenen Jahres dagegen verwehrt, dass der Autor den betreffenden Abend literarisch verwerte. "Ich schreibe hier, weil ich darin die einzige Möglichkeit sehe, wieder Kontrolle zu erlangen. Über mein Leben und diesen Moment in meinem Leben, den Valentin Moritz nun seit Wochen nutzt, um sich medial zu profilieren." Die Solidarität in den sozialen Netzwerken ist groß, ein Argument lautet, der Autor habe die Frau mit seinem Verstoß gegen ihr Verbot ein weiteres Mal übergriffig behandelt.

Lesungen abgesagt

Man nehme die Kritik sehr ernst, reagiert der Kanon-Verlag. Der Text suche eine "Sprache für männliche Täterschaft", für die es im Diskurs bisher "nur wenig Worte gibt". Man bedauere, dass sich eine Person in dem Text wiedererkenne. Tatsächlich überrascht kann man davon indes wohl nicht sein, stehen in dem Text doch auch Sätze wie: "Hätte ich sie nicht verletzt, wären wir noch befreundet. Wären wir noch befreundet, müssten unsere gemeinsamen Freund*innen nicht darauf achten, uns nur getrennt voneinander zu treffen, damit wir uns nicht begegnen." Der Autor habe bereits alle öffentlichen Lesungen aus dem Buch abgesagt, erklärt der Verlag, sein Vorschusshonorar gespendet und werde das auch mit etwaigen Gewinnen aus dem Verkauf tun.

Am Freitagabend veröffentlichte der Kanon-Verlag eine weitere Stellungnahme. Derzufolge sei man zum Text "zu der Erkenntnis gelangt, dass dessen Veröffentlichung ein Fehler war". Man habe die Auslieferung des Buches gestoppt, alle digitalen Formate und eventuelle Nachauflagen würden "Ein glücklicher Mensch" nicht mehr umfassen. Der Verlag habe während des Entstehungsprozesses des Buches erfahren, dass die Betroffene keinen Text über den Vorfall wünsche, man habe diskutiert, „ob es nicht doch einen Weg geben könnte, dem Nein der Betroffenen zu entsprechen und einen Text über ein Tabuthema zu ermöglichen". So einen Weg habe man im dann publizierten "Ein glücklicher Mensch" gefunden zu haben geglaubt. „Doch dieser Weg erweist sich als nicht richtig." Dafür bitte man um Entschuldigung. (wurm, 18.8.2023)