Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
Die Wohnung zu verlassen und unter vielen Menschen zu sein war für Michaela lange eine Herausforderung.
Elias Holzknecht

In der Abflughalle des Flughafens Wien herrscht geschäftiges Treiben. Menschen gehen vor dem Gate auf und ab, manche lesen Zeitung, andere starren in ihr Handy. Michaela nestelt in ihrer Tasche nach einem grünen Igelball und rollt ihn in der Hand. Ihre Finger umspielen seine Stacheln, sie konzentriert sich auf den Reiz. Auf ihren Armen zeichnen sich Narben ab, längs- und querseitig, manchmal einen halben Zentimeter dick.

Wir sitzen auf schwarzen Plastiksesseln und warten auf den Flug nach Brüssel. Bepackt mit einem Rucksack, dem Handy in der einen und dem stacheligen Ball in der anderen Hand, versucht sich Michaela neben mir abzulenken. Es ist ihr erster Flug seit 20 Jahren – und alles rundherum eine Tortur. Michaela hat eine Persönlichkeitsstörung, Typ Borderline, begleitet von Depressionen, früher auch von sozialen Phobien. Die 39-Jährige hat einen Suizidversuch hinter sich und macht seit Jahren Therapie. Die Wohnung zu verlassen und unter vielen Menschen zu sein war lange eine Horrorvorstellung. Trotzdem sitzt sie heute hier. Sie reist als Vertreterin des Vereins Lichterkette zum fünften Europäischen Parlament der Menschen mit Behinderung, um gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zu kämpfen. Ich begleite sie dabei.

Das Bodenpersonal greift zum Hörer: Das Boarding beginnt. Die Passagiere erheben sich, am Gate wird es hektischer, Michaelas Anspannung größer. Entschlossen geht sie auf die Schleuse zu. "Wird schon schiefgehen", sagt sie und atmet tief durch.

"Mein Kind hat das nicht"

"Hätte mir vor zehn Jahren jemand gesagt, dass ich heute hier sitze, ich hätte es nicht geglaubt", sagt Michaela, als sie sich auf dem gepolsterten Flugzeugsitz niederlässt. Bereits in ihrer Jugend kämpft sie mit Depressionen und verletzt sich selbst. "Nach meinen ersten zwei Lehrjahren in der Gastro wollte ich sterben", erinnert sie sich. Sie greift nach dem Sitzgurt. "Damals dachte ich häufig ans Sterben." Aufgewachsen in einer sehr ländlichen Region in der Steiermark, stieß sie mit diesen Gefühlen in ihrem Umfeld auf Unverständnis. Ihr Gesicht wird ernst: "Mit psychischen Erkrankungen ist das auf dem Land so eine Sache: Sie gibt es nicht." Die Eltern wollten lange nicht wahrhaben, dass Michaela krank ist: "Mein Kind hat das nicht."

Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
Lange hätten die Eltern die Erkrankung ihrer Tochter nicht wahrhaben wollen, erzählt Michaela.
Elias Holzknecht

Michaela beißt sich damals durch, beendet brav die Koch-Kellner-Lehre und arbeitet weiter in der ihr verhassten Gastronomie. Erst mit 19 wird die Diagnose Borderline gestellt. Die Tragweite der Krankheit begreift sie noch nicht, ans Aufhören denkt sie ebenfalls nicht. "Arbeit war ja alles." Eine Zeitlang ging das gut. "Und dann kam mit 22 der große Zusammenbruch."

Stigma Borderline

Michaela blickt zu Boden. "Ich war ein paar Monate in der Psychiatrie", sagt sie dann. Ihr Zustand wird damals immer schlimmer, sie wird in eine Klinik eingeliefert und unternimmt einen Suizidversuch. Die Diagnose lautete "emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Typ Borderline" – eine schwere psychische Erkrankung, die von starker Impulsivität und einer Instabilität von Emotionen geprägt ist. Für Betroffene bedeutet sie: massive Stimmungsschwankungen und ständige innere Anspannung, Unruhe und Zerrissenheit. Die Krankheit wirkt sich auf Michaelas Alltag, ihr Berufsleben und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen aus.

"Borderliner, das sind die, die kompliziert, beziehungsunfähig und suizidal sind, wird oft behauptet. Die Schlimmsten, die man als Arzt kriegen kann", erzählt sie. Mit so einer Diagnose werde man schnell als "schwer handlebar" abgestempelt. Doch das Spektrum von Borderline ist breit. Jedes Krankheitsbild ist anders, oft leiden Betroffene auch an Depressionen, Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen.

Wie viele Menschen in Österreich an Borderline erkrankt sind, ist schwer zu sagen. Laut Gesundheitsministerium gibt es in Österreich keine "belastbaren Daten" dazu. Verschiedene Studien würden zwischen 0,7 und 4,5 Prozent der Bevölkerung als Betroffene ausweisen, so eine Sprecherin. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher.

Willkommen in Brüssel

Als das Flugzeug landet, ist es in Brüssel regnerisch. Wir schließen zur Reisegruppe auf, zehn weitere Personen – sie sind wie Michaela Delegierte oder Mitarbeitende des Österreichischen Behindertenrats – reisen mit uns. Niemand kennt den Weg, die Gruppe teilt sich und findet wieder zusammen, alle reden gleichzeitig. Es sind kleine Dinge wie diese, die versuchen, die junge Frau aus der Ruhe zu bringen. Doch Michaela bleibt tapfer: beim Essen, in den Öffis, beim Gruppensightseeing. Nur als in der Hotellobby beim Check-in der Springbrunnen unaufhörlich vor sich hinplätschert, gibt sie der Anspannung kurz nach, explodiert innerlich, muss den Raum verlassen. Sie atmet durch, schüttelt es ab und stellt sich kurz darauf wieder in die Schlange. "Jahrelange Übung", sagt sie. "Ich habe gelernt, dass es auch okay ist, mal auszuticken."

Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
Manchmal ist es okay auszuticken: Michaela hat gelernt, dass sie nicht immer "funktionieren" muss.
Elias Holzknecht

Borderline galt aus medizinischer Sicht lange als nicht heilbar, aber sehr gut behandelbar. Symptome werden mit zunehmendem Alter oft weniger intensiv, und durch geeignete Therapien und Medikation lässt sich für Betroffene der Alltag heute gut meistern. Dass Michaela wieder "funktionieren" kann, wie sie sagt, hat sie aber auch einem "Skills-Training" zu verdanken, bei dem sie lernt, mit Stresssituationen umzugehen. Wöchentlich trifft sie ihre sozialpsychiatrische Einzelbegleitung, häufig in Cafés und an belebten Orten. "So trainiere ich, Reize auszuhalten." Aber auch Gegenstände geben Michaela Sicherheit. Etwa ihr gut organisiertes Smartphone oder ihre stets griffbereite "Skills-Tasche", bestückt mit Notfallmedikamenten, Traubenzucker und dem grünen Anti-Stress-Ball.

Auf dem Weg ins Europäische Parlament ist die Gruppe spät dran und unorganisiert. Wir werden zum falschen Eingang geschickt, müssen doppelt durch die Sicherheitskontrolle – Ausweise zeigen, Taschen auspacken, durch Drehtüren rein und wieder raus. Die Uhr tickt, Michaela schluckt: "Ich bin jetzt auf einem Stresslevel kurz vorm Zerreißen." Doch sie "zerreißt" nicht, und als sie den ersten Schritt in den Plenarsaal macht, entspannen sich ihre Gesichtszüge. Ein ehrfürchtiges "Wow" kommt über ihre Lippen. Sie bleibt im Eingang stehen und zückt ihr Smartphone für ein Beweis-Selfie.

Mit 39 Pensionistin

Als das fünfte Europäische Parlament der Menschen mit Behinderung von der Präsidentin des EU-Parlaments eröffnet wird, sitzt Michaela bereits mit geordneten Notizen auf ihrem Platz. Gespannt lauscht sie den Reden der Delegierten – Menschen mit Behinderungen aus Ländern der EU, die über ihre persönliche Situation und die Lage in ihrem Land berichten. Viele stellen Forderungen, oft nickt sie zustimmend. Etwa als mehr für unsichtbare Behinderungen gefordert wird oder als eine bosnische Rednerin dazu ermutigt, auch als Mensch mit Behinderung eigene Träume zu verwirklichen. Michaela schreibt ein Zitat in ihr Notizheft: "Das Leben ist ein Geschenk, zögern Sie nicht, an sich zu glauben."

Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
Michaela im EU-Parlament – vor und nach etlichen Beweis-Selfies.
privat

Michaela hat sich mit ihrer Teilnahme einen Traum verwirklicht. Am Ende des Tages soll hier und heute ein Manifest zur Europawahl 2024 verabschiedet werden, das eine inklusive Zukunft für Menschen mit Behinderungen vorsieht – und sie ist hautnah dabei. Dass sie jede Sekunde, die sie hier sitzt, über ihre Grenzen hinausgeht, weiß sie. Gleichzeitig triumphiert sie über ihre Krankheit. "Ich kann heute hier sitzen und mich für andere einsetzen. Nicht alle schaffen es, sich wieder aufzuraffen." Dann wird sie ernst: "Und trotzdem gelte ich für die Gesellschaft als Last."

Auf dem Papier ist Michaela Pensionistin, sie lebt von der Berufsunfähigkeitspension mit Ausgleichszulage – knapp 1.000 Euro im Monat. Immer wieder versucht sie, ins Berufsleben zurückzukehren. Auch einen Versuch an der Uni wagt sie 2012, doch dieser scheitert. Sie kann dem Druck nicht standhalten, hat einen zweiten Zusammenbruch und landet erneut in der Psychiatrie. Danach schafft sie den Wiedereinstieg in den Job nicht. Heute setzt sich Michaela etwa für eine Möglichkeit der Teilpensionierung oder Teilarbeitsfähigkeit ein: "Viele schaffen Vollzeit zu arbeiten nicht, trotzdem könnten sie am Arbeitsmarkt wertvoll sein, sie haben ja viele Fähigkeiten." In einer Arbeitswelt, in der der Fokus nach wie vor auf Leistung liege, hätten es Menschen mit psychischen Erkrankungen aber schwer. "Es braucht eine Änderung im System", sagt sie kämpferisch.

Tabu Behinderung

Im Gegensatz zu den meisten Teilnehmenden im Saal ist Michaelas Behinderung nicht sichtbar. Für viele psychisch Erkrankte sei das Wort "Behinderung" ein Tabu. Dabei definieren die UN-Behindertenrechtskonvention und das österreichische Behindertengleichstellungsgesetz, dass Menschen mit langfristig psychischen Beeinträchtigungen als Menschen mit Behinderung zählen. In der Wahrnehmung der Gesellschaft sei das noch nicht angekommen.

Das will Michaela ändern. Sie fordert, dass psychische Erkrankungen mit Behinderungen gesellschaftlich gleichgesetzt werden. Damit polarisiert sie: "Keiner will diesen Hut aufhaben. Psychische Erkrankungen sind eh schon stigmatisiert." Doch die Gesellschaft müsse dafür sensibilisiert werden, dass man sich weder für eine psychische Erkrankung noch eine Behinderung schämen muss. "Der Begriff bedeutet nur, dass ich das Recht darauf habe, gewisse staatliche Leistungen zu bekommen." Staatliche Leistungen für Menschen mit Behinderung können etwa Befreiungen von gewissen Gebühren, Therapie- und Wohnkostenzuschüsse oder Pflegegeld sein.

Nach einer Pause geht es für den letzten Block zurück in den Saal. Als sich Michaela neben mir beim Durchblättern der Unterlagen an einem Stück Papier schneidet, zieht sie aus ihrem Notfallkit ein Pflaster. Mit schwarzem Fineliner steht darauf geschrieben "Alle Wunden heilen, alles wird wieder gut". Sie wirkt überrascht – das habe ihr vor Jahren eine Zimmerkollegin in der Psychiatrie draufgeschrieben, seitdem habe sie das Pflaster gut aufgehoben. Dass sie es ausgerechnet in diesem Moment herausgezogen hat, hält sie für einen Wink des Schicksals. "Wer hätte gedacht, dass ich heute noch da bin?"

Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
Michaelas Zimmerkollegin in der Psychiatrie hat ihr damals eine wichtige Botschaft auf einem Pflaster hinterlassen.
privat

Die "Nachwehen"

Sieben Tage später sitzt Michaela in ihrer Einzimmerwohnung in Innsbruck. Auf rund 40 Quadratmetern hat sie sich ihr Reich geschaffen. "It's a good day to be happy" begrüßt einen eine freundliche Illustration auf einem Poster am Eingang. Überall in der Wohnung kleben Post-its und Zettel mit positiven Botschaften an sich selbst: "Gut ist gut genug" oder "Ich darf um Hilfe fragen". Über Michaelas Bett hängt ein Traumfänger, auf dem Schreibtisch liegt ein unfertiges Puzzle. Gut sichtbar an der Wand pinnen die Nummern vom Krisendienst und Anlaufstellen im Notfall.

Fremde zu empfangen kostet Michaela große Überwindung. Mir abzusagen war trotzdem keine Option: "Termine nicht einzuhalten ist für mich mit großer Scham verbunden. Leute denken dann vielleicht: 'Die funktioniert ja nicht.'" Sie ist angeschlagen, fühlt sich schlapp, ihr Körper will nicht so, wie sie will. "Die Nachwehen", sagt Michaela. Das sei typisch für ihre Krankheit: "Ich schaffe es immer nur zwei, drei Tage am Stück zu funktionieren, dann bin ich wieder leer." Ihr Körper reagiert unmittelbar auf überbordende psychische Reize an mental anstrengenden Tagen. Sie ist dann anfällig für Infekte und Entzündungen. Auch ihr Notfallmedikament musste sie nehmen.

Sie hat Borderline, kann nicht reisen – und fährt trotzdem nach Brüssel
"Gut ist gut genug" oder "Ich darf um Hilfe fragen" – zahlreiche Sätze wie diese finden sich in verteilt in Michaelas Wohnung auf bunten Post-its.
Elias Holzknecht

Michaela geht zu einem Schrank, aus dem sie ihre "Glücksbox" kramt. Darin finden sich Andenken an schöne Erlebnisse – auch das Flugticket nach Brüssel. Von dem Erlebnis sei sie zwar ernüchtert, denn es habe gezeigt, dass die Barrieren, die in Österreich bestehen, in Brüssel genauso existierten. Trotzdem bereut sie die Reise nicht. "Ich bin um eine Erfahrung reicher."

Michaela verschwindet in der Küche. Wie auch der Rest der Wohnung ist sie blitzblank geputzt. Routine, wie etwa Putzen, habe ihr in den letzten Tagen geholfen, wieder runterzukommen – und Musik, sagt sie. Besonders wichtig sei für sie der Song "This Is Me". Er stammt aus ihrem Lieblingsfilm "The Greatest Showman", in dem es um einen Zirkusdirektor geht, der Menschen eine Bühne bieten will, die wegen ihrer Abnormitäten ausgegrenzt werden. "Alle kommen am Ende auf die Bühne und stehen für sich selbst ein. Die Botschaft ist: Wir lassen uns nicht unterkriegen." Michaela lächelt, dreht die Boxen auf und spielt mir den Refrain vor: I am brave, I am bruised, I am who I meant to be – this is me. (Viktoria Kirner, 10.10.2023)