Frauenfußball Kuss Gewalt Debatte
Gleich setzt es etwas auf den Mund der Spielerin: Jennifer Hermoso Fuentes und Luis Rubiales, jubelnd.
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Das Finalmatch der heuer besonders vergnüglichen Frauenfußball-WM dauerte mehr als hundert Minuten – und hatte zudem noch ein überschwängliches Nachspiel. Der Verbandspräsident der Spanierinnen, ein Señor Luis Rubiales, drückte und küsste seine Starstürmerin Jennifer Hermoso Fuentes nach Herzenslust. "Unbändig" nannten manche den tumultuösen Jubel aus Anlass der Siegerinnenehrung. Er gipfelte in der Erzwingung eines Kusses auf den Mund der darüber nicht wenig verwunderten Spielerin – vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Um die förmliche Gewährung der Gunst war Señor Rubiales bei der Spielerin nicht eingekommen. Unmittelbar nachher räumte sie denn auch ihr Unwohlsein ein. Ihr habe die präsidentielle Zudringlichkeit "nicht gefallen". Nach Verstreichen einer längeren Schrecksekunde wiegelte sie ab. Bei der oralen Begegnung habe es sich um "eine natürliche Geste der Zuneigung" gehandelt. Spaniens Gleichstellungsministerin sprach zu diesem Zeitpunkt bereits von einer "Form der sexuellen Gewalt".

Träger der Macht müssen besonders penibel an sich halten. Zu schwer wiegt ihr altes Erbe, gewaltsam verfügen zu dürfen über die Leiber und Gemüter jener, über die sie mehr oder minder uneingeschränkt herrschen.

Leibeigenschaft nannte sich während langer, finsterer Jahrhunderte das Regiment von Grundherren. Diese mengten sich auch noch in die Fortpflanzungsgewohnheiten ihrer Hörigen hinein. Noch in Beaumarchais’ und Mozarts Opera buffa Die Hochzeit des Figaro zehrt das Pathos der Befreiung von der Aussicht auf Selbstbestimmung. Der tröstliche Zauber der Musik nährt die Illusion, das Joch von Willkür und sexueller Ausbeutung durch die Herrschaft könne abgeschüttelt werden.

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Beiderlei Glück: Staatsratsvorsitzender Erich Honecker und Leonid Iljitsch Breschnew begrüßen sich mit einem Bruderkuss anlässlich Breschnews Teilnahme an den Feiern zum 30. Geburtstag der DDR in Ost-Berlin.
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Jeder körperlichen Zudringlichkeit, die sich Mächtige zuschulden kommen lassen, wohnt von Haus aus ein obszönes Element inne. Die Befähigung zu sexueller Zerstreuung soll die Vorstellung nähren, dass jemand, der schlecht regiert, dennoch ein ganzer Kerl sein kann, der seinen Mann steht. Könige haben, wie nicht nur die politische Theologie seit Kantorowicz weiß, sage und schreibe zwei Körper. Der nicht unwichtigere der beiden besteht, wie bei allen Menschen, aus Fleisch und Blut.

Übler Nachgeschmack

Gerade deshalb hinterlässt die Leutseligkeit vieler Macht- und Funktionsträger einen üblen Nachgeschmack: just dann, wenn Tyrannen und Potentaten körperliche Zeichen des Wohlwollens an ihre Untergebenen ausspenden.

"Happy Birthday, Mr. President", hauchte Marilyn Monroe 1962, um John F. Kennedy (bestimmt kein Tyrann!) eine Freude zu machen: Diese galt unzweifelhaft dem Mann, verdichtete sich aber im Glamour des Präsidentenamts. Nichts gemahnt unglücklicher ans Menschsein als herrscherliche Gesten der Zuneigung. Meistens handelt es sich um physische "Abfallprodukte", Anwandlungen von Zimperlichkeit, die das Furchtbare der Gesamtsituation, verbrochen von Machthabern, vertuschen sollen.

Frühvergreiste Diktatoren tätscheln dann zitternd Bubenwangen. Oder kriegführende Kaiser lagern, wie der kleinwüchsige Napoleon Bonaparte, mit baumlangen Grenadieren saumselig um das Lagerfeuer herum.

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Aufs Ganze gehen: Jean-Claude Juncker bedenkt Sebastian Kurz anno 2017 mit einer ausgesuchten Zärtlichkeit.
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Immer ist es die maskuline Übermacht, die leutselig zu sein vermeint, indem sie allgemeinmenschlich zu verfahren vorgibt. Die Vermittlung körperlicher Freuden erfüllt häufig genug den Tatbestand der Nötigung. Und sei es auch nur, dass man als kleiner, nichts ahnender EU-Politiker von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker feucht-fröhlich auf den Mund geküsst wird. Junckers Überschwang machte auch vor Orbán keinen Halt.

Ungehöriges Moment

Seit der Ausspendung des Judaskusses (Matthäus 26,48) wohnt der öffentlichen Küsserei coram publico ein zweifelhaftes, ungehöriges Moment inne. Man ist intim, auch weil man es sich leisten kann. Wem die Öffentlichkeit ohnehin gehört, der muss sich um die Wahrung der Privatsphäre nicht scheren, um die eigene nicht, aber schon gar nicht um die der anderen.

Spaniens Fußballpräsident Luis Rubiales nannte die Kritiker seiner Kussoffensive übrigens "Idioten". Gut möglich, dass es mit seiner verbandsherrlichen Macht bald nicht mehr so weit her sein wird. (Ronald Pohl, 22.8.2023)