Die aktuellen Berichte aus Bergkarabach sind fast immer auch Hilferufe: Etwa 120.000 Menschen leben in der Region, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Seit der Latschin-Korridor, die einzige Lebensader zwischen Armenien und Bergkarabach, von Aserbaidschan blockiert wird, mangelt es ihnen an so gut wie allem: Die Regale in den meisten Geschäften sind leer, es gibt kaum Lebensmittel oder Medikamente. Selbst das Gemüse, das direkt in Bergkarabach angebaut wird, findet kaum den Weg zu den Menschen in der Hauptstadt Stepanakert, weil auch viel zu wenig Benzin für den Transport zur Verfügung steht.

Ein Lkw-Zug mit Hilfsgütern in Armenien
Ein Lkw-Zug mit Hilfsgütern in Armenien (Foto vom 28.7.2023).
AP/Hayk Manukyan

Ausgebrochen ist der Dauerkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion. 1992 kam es zum Krieg, im Mai 1994 sorgte ein Waffenstillstand für vorübergehende Beruhigung. Wirklich beigelegt wurde der Streit aber nie. 2020 gab es erneut Krieg. Unter Vermittlung Russlands trat im November desselben Jahres eine weitere Waffenstillstandsvereinbarung in Kraft, doch auch danach kam es wiederholt zu Gewaltausbrüchen.

Passive russische Truppen

In dem Abkommen von 2020 wurde auch geregelt, dass der Latschin-Korridor, eben die Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach, offenbleiben und von russischen Friedenstruppen gesichert werden soll. Genau das ist aber seit Monaten nicht der Fall. Im Dezember gab es erste Blockaden, seit Juli geht nun fast gar nichts mehr. Aserbaidschan rechtfertigt das mit angeblich "unerlaubtem Material", das in Fahrzeugen des Roten Kreuzes in die Region geschmuggelt worden sein soll. Das Rote Kreuz freilich bestreitet den Vorwurf.

In Bergkarabach geht man aber ohnehin davon aus, dass Aserbaidschan sich im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Vorteile verschaffen will, etwa indem es die Menschen zur Flucht drängt, um die Region unter die Kontrolle Bakus zu bringen. In der Tat verhält sich Russland, traditionell die Schutzmacht Armeniens, auffallend zögerlich – wohl auch vor dem Hintergrund westlicher Wirtschaftssanktionen: "Das russische Friedenskontingent hätte eigentlich die Aufgabe, den offenen Latschin-Korridor zu sichern, doch die Blockade durch Aserbaidschan hält weiter an", sagte Nadja Douglas, Politikwissenschafterin am Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), am Dienstag dem STANDARD. Moskau wolle Baku nicht vergrämen, zumal Aserbaidschan als Transitroute einen wichtigen Zugang zu den Weltmärkten darstellt. Auch das Verhältnis zur Türkei, die als Schutzmacht Aserbaidschans auftritt und als Nato-Staat verhältnismäßig gute Beziehungen zu Russland pflegt, will der Kreml nicht aufs Spiel setzen.

Landkarte der Region Bergkarabach
STANDARD

Gleichzeitig wachse in Armenien laut Douglas aber auch die "Ungeduld mit westlichen Regierungen, die Aserbaidschan gegenüber zu lasch reagieren würden". Das gilt wohl auch für die EU. Ein Abkommen aus dem Jahr 2022 sieht vor, Gasimporte aus Aserbaidschan zu verdoppeln, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu minimieren. Ein Interesse an intakten Beziehungen zu Baku hat also nicht nur Moskau, sondern auch Brüssel – zum Leidwesen der Menschen in Bergkarabach. (Gerald Schubert, 23.8.2023)