Benin-Bronze
Blick nach vorn – oder zurück? Die Restitution der Benin-Bronzen, die zu den bedeutendsten Kulturschätzen Afrikas gehören, wirft Fragen auf. Auch in Nigeria.
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Der Prinz von Benin war geladen, um Raubkunst zu identifizieren, und so reiste er mit Bus und Bahn durch die Schweiz, nach Basel, Zürich und St. Gallen. Nie zuvor hatte der Kunsthistoriker das Land besucht, ein Visum war unter normalen Umständen fast unerreichbar. Die Schweiz machte Eindruck auf den Prinzen: Es gefiel ihm, durch den kniehohen Schnee zu stapfen, er mochte es, dass es zu jeder Mahlzeit einen Korb Brot gab.

Am besten aber war es, als der Prinz die Kunst seiner Vorfahren in den Händen hielt. Endlich. Jene Kunst, die die Kolonialisten vor 126 Jahren aus dem Palast seines Urgroßvaters geraubt hatten, des Oba Ovonramwen, König von Benin. In Messing gegossene Köpfe seiner Ahnen, Skulpturen wilder Tiere und Relieftafeln, auf denen historische Ereignisse abgebildet sind. In diesem Moment, sagt der Prinz, in diesem Moment habe er sich alt gefühlt. Sehr alt. Dann schweigt er.

Der Prinz heißt Patrick Oronsaye, er ist Mitte 60 und sitzt jetzt im Büro eines Waisenhauses am Rande von Benin City, Nigeria. Seine Mutter hat es einst gegründet, an der Wand hängen etliche Auszeichnungen. Auf dem Laptop klickt er durch die Fotos seiner Reise, Betriebssystem Windows 7. Den wackligen Schreibtisch hat Western Union gespendet, am Fensterrahmen blättert der Putz, vom Innenhof drängt Kinderlärm herein. Der Prinz erzählt, dass einer seiner Jungs einmal gesagt habe, mit den Benin-Bronzen kehre die Geschichte zurück. Das stimme. Es sei, als wären es seine Vorfahren selbst, die nach Hause kämen.

Zerstörung durch Briten

Die Geschichte Benins, sie endete im Jahr 1897. Damals schickten die Briten Soldaten in das Königreich, das im Süden des heutigen Nigerias lag und nicht mit dem gleichnamigen Nachbarland zu verwechseln ist, dem ehemaligen Dahomey, das später nach der Bucht von Benin benannt wurde. Eine sogenannte "Strafexpedition": Die Briten wollten den Tod eines Kolonialbeamten rächen und den aus ihrer Sicht Wilden die Zivilisation bringen. Nachdem die Soldaten durch den Dschungel gestreift waren und Benin erreicht hatten, brannten sie den Königspalast nieder, schickten den Oba, den König, ins Exil und plünderten: neben Tonnen von Elfenbein auch ungefähr 4000 Skulpturen, von deren Existenz die Soldaten zuvor nichts geahnt hatten und die später – obwohl mehrheitlich aus Messing gegossen – als Benin-Bronzen in die Geschichte eingehen sollten.

Kunsthistoriker sollten sie mit Werken der italienischen Renaissance vergleichen: von einer Detailverliebtheit und Raffinesse, dass sie nur schwer aus der Hand von Barbaren stammen konnten. Auf Auktionen erzielen sie heute Millionen. Damals aber, zur Jahrhundertwende, als die Bronzen den europäischen Kunstmarkt fluteten, kauften deutsche Museumsdirektoren und Schweizer Händler die Skulpturen für wenige Pfund auf, sie landeten in etlichen ethnologischen Sammlungen. Dort stehen sie noch heute, allen Rückgabeforderungen der nigerianischen Regierung seit den 1970er-Jahren zum Trotz.

Offene Fragen

Erst heute, durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, könnte sich daran etwas ändern. Denn seitdem spricht die westliche Welt über ihre Kolonialschuld. Im Juli 2022 entschied die Bundesregierung Deutschlands nach langen Verhandlungen: Alle Bronzen, die sich in deutschen Museen befinden, mehr als 1100Objekte, sollen an Nigeria zurückgegeben werden. Und auch Schweizer Museen verkündeten, offen zu sein für eine Restitution von Teilen der insgesamt 96 Werke, die über acht Museen im Land verteilt sind. Nigerianische Experten wie Patrick Oronsaye, der Prinz, wurden zurate gezogen, um festzustellen, welche der Werke während der Strafexpedition geraubt wurden. Das Ergebnis: Bei21 sei es gesichert, bei 32 naheliegend. Damit könnte die Geschichte der Benin-Bronzen ein zumindest versöhnliches Ende nehmen. Denn die Rückgabe der Bronzen wäre zwar keine Wiedergutmachung für das Leid. Aber es wäre zumindest ein Eingeständnis der Schuld. Ein symbolischer Sieg der Gerechtigkeit. Nur: Es gibt offene Fragen.

Vorwurf des Sklavenhandels

An der Bürodecke rotiert der Ventilator. Der Prinz erzählt dann davon, wie das Königreich Benin, in der Blüte seiner Macht, über Jahrhunderte hinweg gleichberechtigt mit den Europäern Handel führte, erst mit den Portugiesen, dann mit den Niederländern, mit den Franzosen, mit den Briten. Dann zieht der Prinz das Tempo an, wird lauter und lauter, je näher er dem Unglück kommt; wie jener Kolonialbeamte – ein Mann namens James Robert Phillips – plante, den Oba zu putschen, um sich unbeschränkten Zugriff auf das Palmöl Benins zu sichern; wie Phillips und sein Gefolge von Chiefs des Königs ermordet wurden; wie daraufhin die Raketen vom Himmel fielen, die Briten dem Oba schwere Ketten an die Handgelenke schraubten. Besonders laut wird der Prinz aber, als er über den Vorwurf des Sklavenhandels spricht, den afroamerikanische Aktivisten kürzlich gegen das Königreich erhoben haben. Dann lässt er keinen Raum mehr für die Worte anderer, brüllt fast: "Diese Leute sollten ihre Geschichtsbücher besser lesen."

Eine dieser Leute ist Deadria Farmer-Paellmann: eine in New York lebende, schwarze Juristin. Sie trat zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung, als sie US-Unternehmen wegen deren Beteiligung an Sklaverei anzeigte. Mittlerweile ist sie Vorsitzende der sogenannten Restitution Study Group. Diese fordert, die Rückgabe der Benin-Bronzen zu stoppen – zumindest für jene ab dem 15. Jahrhundert. Denn von da an habe das Königshaus Benin Menschen, die sie nach Überfällen auf Nachbarstaaten versklavt hätten, nach Europa verkauft. Dafür habe es sogenannte Manillen erhalten, also Armreife aus Messing. Diese wiederum seien eingeschmolzen worden, um daraus die Benin-Bronzen herzustellen.

Benin-Bronzen auf Samt
Sie zierten einst den Palast des Königs von Benin, dann wurden sie zur Raubkunst. Nun wird diskutiert, wie mit den Benin-Bronzen umzugehen ist.
APA/AFP/KOLA SULAIMON

Blutbefleckte Bronzen

So könnte die Opfergeschichte gleichzeitig auch eine Tätergeschichte sein: An den Bronzen klebt womöglich Blut. Das ist nicht alles: Ende Februar veröffentlichte die Ethnologin Brigitta Häuser-Schäublin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Artikel "Wie ein Welterbe verloren geht". Darin schreibt sie, dass ein Großteil der Bronzen, die sich bereits vor der Rückgabe im National Museum der nigerianischen 16-Millionen-Einwohner-Metropole Lagos befunden haben, möglicherweise verschwunden ist – denn die Bestände des Onlinekatalogs sind lückenhaft. Wie historische Quellen andeuten, sollte es die drittgrößte Benin-Sammlung der Welt führen, also rund 400 bis 500 Objekte. Heute befänden sich dort aber nur 80 Bronzen. Und tatsächlich sind in der Vergangenheit immer wieder geklaute Artefakte aus Lagos auf dem europäischen Kunstmarkt aufgetaucht.

Eine Flugstunde von Lagos entfernt, umschlungen von Regenwald, liegt Benin City. Zweieinhalb Millionen Menschen leben in der Stadt im Süden des Landes, der vom Terror der Islamistengruppen und Milizen weitestgehend verschont geblieben ist. Die meisten der Einwohner gehören dem Volksstamm Edo an, dem das Königshaus Benin vorsteht und nach dem auch der gleichnamige Bundesstaat benannt ist. Das charakteristische Zentrum der Stadt: ein Kreisverkehr mit riesigem Billboard-Metallrahmen. Gegenüber: die dicken Betonmauern des Königspalasts, der 1914 wiederaufgebaut wurde, als die Briten mit Edeka II.erstmals wieder einen – jedoch völlig entmachteten – Oba zuließen. Von dort aus braucht man nur wenige Fußminuten zu dem Ort, der bis vor kurzem als Europas Hoffnungsträger für die Zukunft der Benin-Bronzen galt: der Baustelle des Edo Museum of West African Art, kurz EMOWAA.

Trügerische Hoffnung

Phillip Ihenacho läuft an Bergen roter Erde vorbei. Der 57-Jährige ist Geschäftsführer des EMOWAA Trust, der Stiftung hinter dem geplanten Museum, finanziert von internationalen Großstiftungen wie der Ford Foundation oder der Open Society Foundation von George Soros, aber auch von der deutschen Bundesregierung. Vor kurzem habe hier, auf dem Gelände der Baustelle, noch ein Krankenhaus gestanden, erklärt Ihenacho in gestochen klarem Englisch. Nach Baubeginn sei es provisorisch ein paar Straßen weitergezogen. Aus seiner Sicht kein Verlust: "Der Zustand war ein Desaster. Da willst du nicht hinkommen, wenn du krank bist."

Das Krankenhaus, sagt Ihenacho, stehe sinnbildlich für die Gesamtsituation seines Landes: "Früher sind wir mit der Hoffnung aufgewachsen, dass die Dinge besser werden." Er selbst lebte als Kind einer britischen Mutter und eines nigerianischen Vaters in Lagos. Zum Studieren ging er in die USA, nach Yale, kam nach einer Zwischenstation bei McKinsey aber zurück nach Nigeria, um in der afrikanischen Finanzbranche Karriere zu machen. Er sei wiedergekommen, um sein Land voranzubringen, sagt er. Denn Korruption und Misswirtschaft hätten dazu geführt, dass vieles viel schlechter funktioniere als früher. Die öffentliche Verwaltung, die Infrastruktur, das Gesundheits- und Bildungswesen, alles marode.

Wenn Ihenacho von seinen Museumsplänen erzählt, dann klingt er ähnlich leidenschaftlich wie Patrick Oronsaye, der Prinz – nur dass er sich eben lieber die Zukunft hübsch ausmalt als die Vergangenheit. Das EMOWAA soll mehr sein als ein Museum: In einem Pavillon werden zukünftig Kunstwerke gelagert und wissenschaftlich untersucht, ein Kreativquartier lädt Künstler aus der ganzen Welt und ein künstlich angelegter Dschungel bietet Entspannung vom hektischen Stadtleben. Die Idee des EMOWAA: Kunst vom Senegal bis Namibia auszustellen. Das Highlight wären die Benin-Bronzen gewesen. Das jedenfalls behaupteten schon bald Medien weltweit, und auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kündigte beim Staatsakt in Abuja an, die Artefakte würden dort ausgestellt.

Royales Museum

Doch nun wird es wohl anders kommen. Am 11. Mai 2021 veröffentlichte eine nigerianische Zeitung ein Statement des aktuellen Königs, Oba Ewuare II.: Der Oba sei der einzig legitime Eigentümer der königlichen Kunst, da die Bronzen aus seinem Palast geraubt worden seien. Jeder, der das anders sehe, sei ein Feind und arbeite gegen die Interessen des Königreichs. Im März dieses Jahres dann die Ankündigung des scheidenden Präsidenten Muhammadu Buhari: Die restituierten Bronzen gehen zurück an den Oba von Benin, in seinen Privatbesitz. Der plant ein eigenes, "royales" Museum. Eine Baustelle existiert, gebaut wird noch nicht. Denkbar, dass sie Bronzen im Königspalast landen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Auf mehrmalige Interviewanfragen reagierte der Oba nicht.

Unterhält man sich mit Ihenacho, wird klar, dass er auf Benin City blickt wie auf einen Freund, der etwas aus sich machen könnte, würde er sich einmal neue Klamotten kaufen und sich den ausgefransten Bart abrasieren. Er sieht verstopfte Straßen, heruntergekommene Hotels. Er sieht aber auch: eine Stadtmauer, die mit 16.000 Kilometern einmal die längste der Welt war, länger als die Chinesische Mauer, und von der nur noch ein mit Gestrüpp überwucherter Graben übrig ist. Er sieht eine lebendige Künstlerszene.

Kurz: Ihenacho sieht Potenzial. Die Benin-Bronzen sind für ihn der Katalysator, um dieses Potenzial endlich zu nutzen: Sie sollen Touristen in die Stadt holen, Jobs schaffen, so wie die baskische Stadt Bilbao mit dem Bau des Guggenheim-Museums zur internationalen Destination wurde. Ihenacho sagt, für den Westen ende die Geschichte mit der Rückgabe der Bronzen. Dann könnten die Verantwortlichen sagen: "Schaut her, was für gütige Menschen wir sind" – und sparten nebenbei noch Lagerungskosten. "Für uns aber, für uns beginnt die Geschichte erst jetzt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir das Maximum aus den Bronzen herausholen?" Diese Frage wird allein der König beantworten dürfen, und das, obwohl Deutschland die Bronzen eigentlich explizit an den nigerianischen Staat übergeben hatte.

Stammesordnung

Es liegt nahe, darin das alte afrikanische Problem zu erkennen: den Tribalismus. Dass politische Entscheidungen also nach der Logik der Stammesordnung getroffen werden und nicht nach der des Allgemeinwohls. Das muss nicht heißen, dass sich der Oba an den Bronzen bereichern will; es ist durchaus möglich, dass er nur das Wohl der Bürger im Blick hat. Und trotzdem: Sollte das kollektive Erbe einer Hochkultur nicht der Allgemeinheit gehören, so wie die Kunstwerke, Schlösser und Parks in vielen europäischen Ländern? Dann könnte die nigerianische Regierung selbst entscheiden, mit wem sie kooperiert, um das Gemeinwohl zu mehren. Doch egal wen man fragt, niemand scheint ein Problem mit der Entscheidung zu haben. Warum ist das so?

Fährt man von der EMOWAA-Baustelle über die kerzengerade Hauptstraße, die einst die Portugiesen errichtet haben, erreicht man die Igun Street. Ein orangefarbener Torbogen begrüßt die Besucher: "Gilde von Benin: Bronzegießer – Weltkulturerbe", steht dort in dicken Lettern geschrieben. Dahinter reihen sich Wellblechverschläge aneinander. Die Künstler, die hier arbeiten und über offenem Feuer Messing erhitzen, blicken auf eine jahrhundertealte Familientradition zurück. Die Männlichkeitsform ist übrigens nicht generisch gemeint: Frauen sind aus der Gießergilde der Igun Street ausgeschlossen.

Kunst für den Palast

Die Nähe der Igun Street zum Königspalast ist kein Zufall. Man kann die Straße vielleicht mit den königlichen Manufakturen in Europa vergleichen: Die Gießer arbeiteten ausschließlich für den König. Ihr Daseinszweck war es seit jeher, Kunst für den Palast zu schaffen. Auch das ist Teil der Wahrheit: Ohne den König gäbe es die Benin-Bronzen vermutlich gar nicht.

"Setzt euch und wartet", sagt der Junge im "Original Gangster"-T-Shirt und deutet auf die beiden Plastikstühle auf der verstaubten Veranda. Der Chief komme gleich. Nach fünf Minuten öffnet ein Mann Mitte 60 in grauem Kaftandie Tür des Wohnhauses. Der Junge verbeugt sich. "Ich zeige euch etwas", sagt der Chief und sperrt eine Plexiglastür zu einem Verschlag auf, der mit "The Gallery" überschrieben ist. Drinnen ein Holzregal, mit Bleistift nummeriert, 15, 16, 17, darauf: Bronzen, etliche Bronzen – Männchen, die Flöte spielen, Köpfe, Hühner, Relieftafeln von filigraner Vollendung. Hergestellt von seinen Vorvätern, sagt der Chief, viele seien mehrere Hundert Jahre alt. Sie hätten sie in doppelter Ausführung gegossen: einmal für den Palast, einmal für sich selbst. Mehrere Jahrhunderte Familiengeschichte, Duplikate der verlorenen Raubkunst, dicht gedrängt auf wenigen Quadratmetern. Sie müssen Hunderttausende, wenn nicht Millionen wert sein. Verkaufen wollte der Chief sie nie.

Gestohlene Geschichte

Der Chief sagt, es gebe zwei Gruppen an Kunstwerken. Zum einen jene mit religiöser Bedeutung. Solche stehen bei ihm selbst im Schrein nebenan: Bronzeköpfe und Rasselstäbe, einer für jeden verstorbenen Ahnen. Sie machen die Minderheit der Objekte aus. Häufiger sind jene, die historische Ereignisse dokumentieren. Auf Relieftafeln sind Kriege gegen Nachbarstämme abgebildet oder Beziehungsgeflechte am Hof. Und bei den Skulpturen kleiner Männchen mit Musketen und spitzen Helmen handelt es sich um die Portugiesen – die ersten Europäer in Benin. Es sind die Geschichtsbücher einer Zeit, als in Benin noch keine geschriebene Schrift existiert hat. "Mit den Bronzen hat man uns unsere Geschichte gestohlen", sagt der Chief. Und was ist das, ein Volk ohne Geschichte?

Wer den Trubel der Märkte hinter sich lässt und an etlichen Baptistenkirchen vorbeifährt, der erreicht, gleich gegenüber einer geschlossenen Textilfabrik, jenen Ort, an dem die Geschichte Benins wiederbelebt wird: das Institute for Benin Studies. Es ist die einzige Bibliothek, die sich mit der Geschichte des Königreichs Benin befasst. Gegründet wurde das Institut von einem Marinenavigator, der in den 1990ern vom Oba beauftragt wurde, eine Erinnerungsfeier zum Gedenken an die Invasion zu planen – und feststellte, dass es kaum Informationen darüber gab. Also begann er nebenberuflich, jedes Buch aufzukaufen, das er finden konnte.

Fundamentaler Fehler

Mittlerweile wird das Institut von Godfrey Ekhator geleitet. Er betätigt sich nebenbei im Digital Benin Project, in dem europäische und nigerianische Experten Bronzensammlungen weltweit katalogisiert werden – daraus ist jene Datenbank hervorgegangen, die laut der Ethnologin Brigitta Häuser-Schäublin lückenhaft ist. Den Verdacht, die Werke könnten flächendeckend aus dem Museum in Lagos gestohlen worden sein, hält Ekhator aber für "zynisch": Man habe aus Mangel an Zeit nicht alles digitalisieren können – was nicht heiße, dass die Werke verschwunden seien.

Ekhator hat sich im Schatten eines großen Avocadobaumes niedergelassen, das Gespräch dreht sich um die Studienergebnisse eines deutschen Biochemikers, der herausgefunden haben soll, dass das Messing der Benin-Bronzen vom Rhein, also aus Deutschland, stammte. Die Portugiesen hätten es dann nach Benin gebracht – als Manillen im Tausch gegen Sklaven. Ekhator sagt, er musste lachen, als er davon las: "Es ist ein fundamentaler Fehler anzunehmen, dass es vor dem Portugiesen kein Messing in Benin gab." Das Metall habe auch in Afrika existiert, und Benin, dieses mächtige Königreich, habe Handelsbeziehungen bis nach Ägypten gepflegt. Benin, so viel sei sicher, habe Europa nicht gebraucht für seine Bronzen. Nicht gebraucht, um Zivilisation zu entwickeln.

Selektives Geschichtsbild

Nur: Dass der Manillenhandel ab dem 15. Jahrhundert der Bronzekunst einen großen, vielleicht entscheidenden Schub gegeben hat, lässt sich kaum bestreiten. In der Digital-Benin-Datenbank jedenfalls finden sich für die Zeit davor gerade einmal zwei Objekte – unter über 5000. Dieses eher selektiv anmutende Geschichtsbild teilt Ekhator mit Patrick Oronsaye, dem Prinzen. Hunderte Menschenopfer, von denen die Briten nach Einmarsch in Benin berichtet haben? Propaganda, antwortet Ekhator. Sklavenhandel? Unbedeutend, antwortet der Prinz. Vielleicht 0,001 Prozent der europäischen bzw. amerikanischen Sklaven seien aus Benin. Denn der Oba habe bereits 1516 den Sklavenhandel im ganzen Königreich abgeschafft, weil die Edo ihre Arbeitskräfte selbst benötigten. Und der Manillenhandel? Der habe vor allem auf Textilien beruht, nicht auf Sklaven.

Viele Fragen werden sich wohl nicht endgültig klären lassen. Denn sieht man von mündlichen Überlieferungen ab, stammen die Berichte dieser Zeit von Europäern, in Benin gab es keine Schrift. Die historischen Dokumente der Europäer wiederum drohen verzerrt zu sein durch rassistische und koloniale Vorurteile. Und: Es existiert relativ wenig neue Forschung zu dem Thema. Aber: In Oronsayes Behauptung, der Oba habe den Sklavenhandel abgeschafft, steckt mit ziemlicher Sicherheit zumindest eine Teilwahrheit. Im gut recherchierten Übersichtsbuch Benin and the Europeans des Historikers Alan Frederick Charles Ryder etwa heißt es: 1516 habe der Oba den Handel zwischen den Geschlechtern getrennt, wobei Männer nur noch selten verkauft wurden. Dadurch verlagerte sich der Sklavenhandel auf andere westafrikanische Länder, etwa Ghana oder das heutige Benin. Ab dem 18. Jahrhundert habe er aber wieder zugenommen.

Benedikt Herber
Benedikt Herber, geb. 1990, ist freier Autor und Gründungsmitglied von Hermes Baby, der Agentur für Erzähljournalismus. Seine Reportagen erscheinen in deutschsprachigen Zeitschriften und Magazinen. Foto: privat
Herber

Freigelegte Vergangenheit

Der Wald wird dichter, Plastikmüll knarzt unter Phillip Ihenachos Schuhen. "Hier muss es sein", sagt Ihenacho. Er schiebt die Schlingpflanzen zur Seite und legt den Grabstein frei: "R. C. M. Cullooh, gestorben am 2. Dezember 1907, Alter: 33 Jahre" ist darauf eingraviert. Rundherum mehrere Dutzend Kreuze, manche begraben unter Müllbergen. Ein Friedhof der Briten, direkt auf dem Gelände des EMOWAA. Und das ist nicht der einzige Fund auf der Baustelle: Bevor die Arbeiten losgingen, entdeckten Archäologen unter der Erde bereits Behälter aus Terrakotta; Reste von Pfeifen, die vermutlich am königlichen Hof geraucht wurden; Glasflaschen, aus denen die Briten Gin getrunken hatten.

Wer will, kann darin ein Symbol erkennen: Denn seitdem klar ist, dass die Bronzen zurück nach Benin gehen, wird ein Stück verschüttete Geschichte freigelegt. Ihenachos Stiftung schickt Lehrer in Schulklassen, um die Schüler über die Vergangenheit aufzuklären. So beginnt allmählich eine Auseinandersetzung mit der Frage, wo man herkommt. Wer man eigentlich ist. Und wo man hinwill. Dabei mag das, was es unter der Erde zu finden gibt, nicht jedem gefallen – aber immerhin: Es gibt eine Diskussion.

Konglomerat aktueller Fragen

Für Ihenacho ist klar, wohin diese Diskussion auch führen muss: "Nicht nur in Benin, in ganz Westafrika ist nun der Zeitpunkt gekommen, sich einzugestehen: ‚Ja, wir haben am Sklavenhandel mitgewirkt‘", sagt er. Nur so könne es eine Heilung geben zwischen den Afrikanern hier und jenen in der Diaspora, den Nachfahren der Sklaven. Die Benin-Bronzen haben das Potenzial, den Blick auf die eigene Vergangenheit zu schärfen – und damit auf die eigene Identität. Es kehrt kein totes Kulturgut nach Nigeria zurück, sondern ein Konglomerat sehr aktueller Fragen. So wird nicht nur materielle Gerechtigkeit hergestellt, man gibt den Menschen auch eine Chance, sich zum eigenen Erbe zu verhalten, darauf aufzubauen. Sicherlich ist damit das Risiko verbunden zu scheitern. Doch lohnt es sich wohl, dieses Risiko einzugehen.

Auf seiner Veranda erzählt der Chief den Gästen zum Abschied noch eine Geschichte. Er habe einmal das Weltmuseum in Wien besucht. Hinter einer dicken Glasscheibe entdeckte er eine seiner Bronzen – genau dieselbe, die hier hinten in seiner Kammer steht. Er wollte ein Foto machen, dann seien aber zwei Securitymänner auf ihn zugegangen und hätten ihn ermahnt: "Keine Fotos!" Das sei doch verrückt, sagt der Chief. "Dass ich meine eigene Kunst nicht fotografieren darf." (Benedikt Herber, 27.8.2023)