SARS-CoV-2-Viren. 
Viele Menschen, die an einer Corona-Infektion litten, haben nach wie vor mit den Spätfolgen zu kämpfen.
AP

Der Forschungsschwerpunkt von Akiko Iwasaki liegt im Bereich der Immunantwort. Darüber hinaus gilt die japanisch-amerikanische Immunologin als eine der weltweit führenden Expertinnen für Long Covid. Aktuell ist sie Präsidentin der American Association of Immunologists und hat jüngst den mit 2,5 Millionen US-Dollar dotierten Else-Kröner-Fresenius-Preis für Medizinische Forschung erhalten.

Im Interview erzählt die renommierte Forscherin, warum Long Covid und ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis und Chronisches Fatigue-Syndrom) in der medizinischen Community teils noch immer ignoriert werden, und gibt eine Prognose, wann die Pandemie ihrer Meinung nach wirklich vorbei ist.

STANDARD: Eine aktuelle Schätzung besagt, dass weltweit 65 Millionen Menschen an Long Covid leiden, Sie sagten kürzlich, es seien wahrscheinlich noch mehr. Gleichzeitig wird Long Covid teils immer noch als etwas Obskures gesehen. Können Sie definieren, was man unter Long Covid versteht?

Iwasaki: Ein Teil des Problems ist sicher, dass es keine allgemeingültige Definition für Long Covid gibt. Verschiedene Regierungen und Institutionen definieren Long Covid unterschiedlich. Prozentuell ist es aber so, dass etwa zehn Prozent der mit Sars-CoV-2 infizierten Personen Long Covid bekommen. Das ist der Konsenswert, den man heutzutage verwendet. Auf dieser Grundlage wurde die Zahl der Menschen, die weltweit mit Long Covid leben, auf 65 Millionen geschätzt. Möglicherweise ist diese Zahl aber zu niedrig.

STANDARD: Warum bleibt Long Covid in der öffentlichen Wahrnehmung dann so unsichtbar?

Iwasaki: Das Thema wird in vielen Ländern medial nicht diskutiert. Es wirkt vielleicht exotisch, weil wir die Pathogenese dieser Krankheit noch nicht ganz verstehen, also warum Menschen Long Covid entwickeln. Aber auch traditionell betrachtet wurde diese Art von chronischen Erkrankungen, die nach einer Vireninfektion auftreten, von der medizinischen Community großteils ignoriert. Das ist wohl der Hintergrund, vor dem das mangelnde Bewusstsein zu sehen ist.

STANDARD: Es gibt mittlerweile 200 Symptome, die mit Long Covid in Verbindung gebracht werden, auch gibt es bereits bekannte Leiden wie ME/CFS oder Herzerkrankungen, die durch Long Covid auftreten. Ist der Sammelbegriff Long Covid noch sinnvoll?

Iwasaki: Long Covid als Begriff wurde von den Patienten geprägt. Sobald wir verstehen, ob es verschiedene Arten von Treibern für diese Erkrankung gibt, können wir beginnen, sie in verschiedene Endotypen zu unterteilen. Aber im Moment verstehen wir die Hintergründe nicht gut genug, um Personen mit Long Covid so zusammenzufassen. So weit sind wir einfach noch nicht.

ME/CFS: Ein Leben mit permanenter Erschöpfung
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DER STANDARD

STANDARD: Wie Sie sagen, leiden viele Long-Covid-Patienten an Symptomen, die sehr stark jenen von ME/CFS ähneln. Wie viele Menschen betrifft das?

Iwasaki: Die exakte Antwort darauf kennen wir nicht, aber Untersuchungen gehen davon aus, dass 50 Prozent der Betroffenen nach einer gewissen Zeit die Definition von ME/CFS erfüllen.

STANDARD: Von ME/CFS Betroffene müssen oft darum kämpfen, ernst genommen zu werden und die nötige Therapie zu erhalten. Woran liegt das?

Iwasaki: Diese Art von postakuten Infektionssyndromen treten nicht nur nach Covid auf. Es gibt eine Reihe von Viren, die ähnliche Folgen haben können, darunter auch ME/CFS, das mit einem Dutzend verschiedener Viren in Verbindung gebracht wird. ME/CFS wurde aber jedenfalls von der medizinischen Community viel zu wenig untersucht und anerkannt, teilweise nicht ernst genommen. Ein Grund könnte sein, dass es schwierig ist, die Betroffenen zu behandeln.

Akiko Iwasaki. 
Die Immunologin Akiko Iwasaki zählt zu den weltweit führenden Expertinnen beim Thema Long Covid. Die Erkrankung ist ihres Erachtens noch viel zu wenig erforscht, vielfach fehlt auch das medizinische Bewusstsein dafür.
Robert Lisak/YSM

STANDARD: Warum tun sich Ärzte bei der Diagnose so schwer?

Iwasaki: Viele Mediziner kennen die Krankheit nicht. Wir wissen auch noch nicht, wie sie genau entsteht, daher sind viele Mediziner frustriert, weil sie sie keiner bestimmten Ursache zuordnen können. Das ist ein beschämendes Kapitel in der Geschichte der Medizin: Betroffene wurden ignoriert, abgewiesen und mitunter sogar lächerlich gemacht. Viele Ärzte ordnen ME/CFS immer noch als psychische Krankheit ein, weil sie sich keine andere Ursache vorstellen können und viele Tests keine auffälligen Werte zeigen.

STANDARD: Was spricht dagegen?

Iwasaki: Mit zunehmender Forschung sehen wir biologische Unterschiede bei Menschen mit ME/CFS und Long Covid. Die Tests fallen normal aus, weil man vielleicht nicht auf das Richtige getestet hat. Wir versuchen nun, die biologischen Veränderungen, die bei Long Covid und ME/CFS auftreten, besser zu definieren, damit ein Arzt eines Tages einfach einen Test anordnen und ME/CFS diagnostizieren kann. Und es ist bereits bewiesen, dass die Symptome vieler Menschen, die Long Covid haben, der Definition von ME/CFS entsprechen.

STANDARD: Frauen sind häufiger von ME/CFS betroffen. Spielt das auch eine Rolle bei der Anerkennung?

Iwasaki: Absolut. Leider spielt dieser Gender-Bias eine Rolle dabei, wie Ärzte Betroffene wahrnehmen und wie sie die Krankheit definieren. Historisch betrachtet wurden Frauen, die über die verschiedensten Symptome klagten, als "hysterisch" abgestempelt. Das spielt mit Sicherheit auch heute noch eine Rolle bei der Ablehnung dieser Krankheiten. Aber es gibt auch viele Männer, die darunter leiden und ebenfalls nicht ernst genommen werden. Wenn die medizinische Community eine Krankheit erst einmal als "umstritten" oder "schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln" eingestuft hat, ist das eine Bestärkung für andere Ärzte, den gleichen Weg einzuschlagen.

STANDARD: Sie haben Long Covid als eine "Pandemie nach der Pandemie" bezeichnet. In Österreich wurde Sars-CoV-2 jüngst von der Liste der meldepflichtigen Krankheiten gestrichen.

Iwasaki: Das ist verrückt, passiert aber leider überall.

STANDARD: Es ist interessant, dass Sie das sagen, denn mittlerweile haben wirklich sehr viele Länder die Pandemie für beendet erklärt, damit die Menschen wieder zur Normalität zurückkehren können.

Iwasaki: Natürlich möchten alle wieder zur Normalität zurückkehren. Tatsache ist jedoch, dass dieses Virus noch immer zirkuliert und es im Herbst und Winter zu Infektionswellen kommen kann. Es ist das typische Muster für Atemwegsviren, dass wir in den trockeneren und kälteren Jahreszeiten höhere Infektionszahlen sehen. Es könnte uns also auch diesen Winter wieder treffen. Die Tatsache, dass die Pandemie nicht länger als gesundheitliche Notlage definiert wird, bedeutet nicht, dass das Virus verschwunden ist.

STANDARD: Welche Herangehensweise schlagen Sie vor?

Iwasaki: Ich denke, wir alle müssen unser Handeln mit dem potenziellen Risiko einer Infektion und dem Risiko von Long Covid abwägen. Für Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder Menschen, die nicht geimpft sind, besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren und an Long Covid zu erkranken. Ich verstehe, dass es für die Gesellschaft und aus wirtschaftlichen Gründen wichtig ist, wieder zu öffnen. Aber das Tragen von Masken in überfüllten Räumen oder die Verbesserung der Belüftung, um Arbeitsplätze und andere Innenräume sicherer zu machen, muss fortgesetzt werden.

STANDARD: Das heißt, die Pandemie ist noch immer nicht vorbei?

Iwasaki: Long Covid ist eine der postakuten Folgen von Covid. Es besteht aber auch ein erhöhtes Risiko für andere Folgen wie Herzversagen, Schlaganfall oder Diabetes. Womöglich sehen wir in zehn Jahren, dass sich auch andere Risiken nach einer Sars-CoV2-Infektion erhöhen: Autoimmunerkrankungen, neurokognitive oder auch neurodegenerative Erkrankungen. Wir kennen das Gesamtbild noch nicht, es wird sich erst mit der Zeit offenbaren. Wenn wir Infektionen generell vermeiden könnten, wäre das eine Lösung für all diese Probleme. Wir versuchen deshalb, einen nasalen Impfstoff zu entwickeln, der nicht nur eine Erkrankung, sondern schon die Infektion und die Weitergabe verhindert. Ich glaube, wenn das gelingt, können die Menschen sich wirklich wieder sicherer dabei fühlen, ohne Schutzmaßnahmen zu leben.

STANDARD: Sie haben schon erwähnt, dass der Begriff Long Covid von Patientinnen und Patienten geprägt wurde. Welche Rolle spielen Patienten selbst in der Forschung?

Iwasaki: Ich fand schon immer, dass insbesondere bei sehr komplizierten und wenig erforschten Krankheiten wie Long Covid die Patienten die eigentlichen Experten für ihre Krankheit sind. Und ich lerne so viel, wenn ich den Patienten zuhöre und mit ihnen kommuniziere. Das ist meiner Meinung nach sowohl für die Patienten als auch für die Forscher und Ärzte von Vorteil: Zu verstehen, was vor sich geht, welche Erfahrungen sie gemacht haben und dann ihre Immunreaktionen zu verstehen und zu versuchen, die Erfahrungen und Symptome mit der Immunreaktion zu verbinden – ich denke, das ist eine sehr wirkmächtige Art der Forschung.

STANDARD: Patienten-fokussierte Forschung brachte sie auch in Kontakt mit der WE&ME-Stiftung der Bäckerei-Familie Ströck in Österreich.

Iwasaki: Ja, ich habe Christoph Ströck, der selbst seit Jahren an ME/CFS leidet, auf Twitter kennengelernt, als er mir vor einiger Zeit eine Direktnachricht schickte und mir von seiner Geschichte und seinen Beschwerden erzählte. Seitdem haben wir uns immer wieder ausgetauscht. Das hatte einen großen Einfluss auf mein Leben und auf meine Forschung zu Long Covid und ME/CFS: Ich las seine Texte und mir wurden die Probleme bewusst, mit denen er zu kämpfen hat, und wie sein Leben durch diese Krankheit auf den Kopf gestellt wurde. Gleichzeitig wird ihr so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das hat in mir den Wunsch geweckt, mehr darüber zu lernen und Menschen wie Christoph zu helfen. Das war also der Anfang. Später hat er mir gesagt, dass er unsere Forschung gerne unterstützen würde. Und so wurde es möglich, ein gemeinsames Forschungsprojekt mit der Polybio Foundation zu vermitteln und zu finanzieren, bei der wir Serum und Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit von ME/CFS-Betroffen untersuchen, um zu sehen, was wir daraus über die Krankheit lernen können. Wir haben bereits mit der Analyse begonnen und ich bin sehr gespannt auf dieses Projekt. (Levin Wotke, 3.9.2023)