Vom abgestürzten Privatflugzeug Jewgeni Prigoschins blieben nur Bruchstücke übrig.
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Für Ivan Krastev, den 1965 in Bulgarien geborenen renommierten Politologen und Osteuropa-Experten, könnte der Tod Jewgeni Prigoschins mit der russischen Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zusammenhängen. Wieder einmal wollte Putin einen Gegenkandidaten frühestmöglich ausschalten und eine Botschaft aussenden, ist sich der Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) sicher. Krastev sieht eine lange Phase der Unsicherheit auf Europa zukommen, auf die es vorbereitet zu sein gilt.

STANDARD: Glauben Sie, Putin hat den Söldnerführer Prigoschin umbringen lassen, oder gibt es eine realistische andere Möglichkeit?

Krastev: In der Welt ist alles möglich. Es kann ein Unfall gewesen sein, aber die Wahrheit ist: Selbst wenn es ein Unfall war, wird es niemand glauben. Prigoschin hat ein Leben gelebt, das es für ihn unmöglich machte, eines natürlichen Todes zu sterben. Ich weiß ebenso wenig wie Sie, was passierte, aber in der öffentlichen Vorstellung, sowohl in Russland wie in der Welt, wird es als Exekution betrachtet werden. Und die Exekution wurde vom russischen Präsidenten befohlen.

STANDARD: Prigoschin hatte eine Fehde mit der russischen Militärführung. Ist es denkbar, dass das Militär ihn unabhängig von Putin hat umbringen lassen?

Krastev: Nein. Prigoschins Schicksal war am Tag der Meuterei entschieden, als Präsident Putin ins Fernsehen ging und sagte, das ist Verrat. Sie wissen ja, er hat eine spezielle Obsession mit Verrat und Verrätern. Prigoschin war die letzten zwei Monate ein "dead man walking". Die Überlegung war, wie man Prigoschin killt, ohne seine Söldnertruppe Wagner zu killen. Putin traf fünf Tage nach dem Putschversuch mit Prigoschin und anderen militärischen Kommandeuren zusammen, und es ging darum, wie man ihn von seinen Leuten trennt. Dazu hat man die zwei Monate gebraucht – und auch, um die Loyalität der Wagner-Truppen in Afrika von Prigoschin zum russischen Staat umzuleiten. Prigoschin lebte auf geborgte Zeit. Übrigens war es kein Zufall, dass nicht nur Prigoschin in dem Flugzeug starb, sondern auch der eigentliche Gründer und Namensgeber von Wagner, Oberst Dmitri Utkin. Damit ist die Führung von Wagner ausgelöscht.

Kalender von Putin
Putin, Autokrat mit vielen Gesichtern: die subtil-kritischen Kalenderbilder der russischen Künstler Dmitri Wrubel und Victoria Timofejewa, 2001.
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STANDARD: Wie geht es weiter? Hat Putin – in der kurzen Perspektive – seine Position gesichert?

Krastev: Das Timing des Absturzes könnte auch damit zu tun haben, dass nächstes Jahr Präsidentenwahlen in Russland sind. Es gab eine – völlig unrealistische – Spekulation, dass Prigoschin antritt. Aber ich glaube, dass der Kreml diese Spekulationen so früh wie möglich abschneiden und Prigoschin als Kandidaten weghaben wollte. Ein anderer Grund könnte sein, dass das russische Militär, das von Prigoschin so kritisiert wurde, nun einige Erfolge beim Aufhalten der ukrainischen Gegenoffensive hat. Der Tod Prigoschins markiert die Konsolidierung von Putins Macht. Diesmal ist es aber entgegen der russischen Tradition, egal ob in der kommunistischen oder vorkommunistischen Periode: Diesmal muss man nicht Tausende töten. Diesmal genügt es, einen zu verhaften oder zu töten, und der Rest versteht, was die Botschaft ist. Das einzige Risiko für Putin ist, dass die Legende von Prigoschin nicht verschwindet.

STANDARD: Was ist das für ein Staat, in dem Privatarmeen Meutereien anzetteln?

Krastev: Putin hat es überall gleich gemacht, in der Wirtschaft und der Politik. Er gab den Staat in die Hände von ein paar engen Freunden. Die Wagner-Miliz war ein Instrument, um das Militär in Schach zu halten. Wenn dann einer aufbegehrt, muss er diszipliniert werden. Aber diese Art der Konsolidierung hat den Nachteil, dass sie ohne wirkliche öffentliche Unterstützung geschieht. Das Volk akzeptiert das Faktum, dass Putins Macht unlimitiert ist, aber es kann sich nicht ein Russland nach Putin vorstellen. Putins Macht wurde so groß, dass man sich die Zukunft nicht ohne ihn vorstellen kann. Aber er ist sterblich. Das erzeugt eine Krise im System, denn das System ist von ihm so abhängig. Das ist eine der Schwächen so stark personalisierter Regime.

Ivan Krastev
Ivan Krastev: "Putin kann in der Ukraine nicht mehr gewinnen."
Heribert Corn

STANDARD: Aber was ist die längere Perspektive? In der russischen Geschichte gab es die "Zeitder Wirren" ("smutnoje wremja") im späten 16.Jahrhundert – ist so etwas nach Putin denkbar? Chaos, jeder gegen jeden?

Krastev: Das kann sein. Es ist auch denkbar, dass die russischen Eliten einen geordneten Machtübergang schaffen. Aber es gibt keine Hoffnung auf einen Wandel der russischen Politik auf kurze Sicht. Das gilt auch für den Ukrainekrieg. Putin kann diesen Krieg nicht stoppen. Obwohl dieses Regime ohne Massenrepression wie unter Stalin auskommt, ist es ein Regime der Paranoia und des Misstrauens. Putins Regime ähnelt dem von Stalins letzten Jahren: die Macht konsolidiert, aber totale Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass der Krieg in der Ukraine nicht auf dem Schlachtfeld enden wird und nicht vor den Präsidentenwahlen in den USA 2024. Setzt Putin auf einen Wahlsieg Trumps?

Krastev: Putin kann in der Ukraine nicht mehr gewinnen. Er hat begonnen unter der Annahme, dass die ukrainische Bevölkerung wünscht, durch Russland vom westlichen Einfluss befreit zu werden. Dass die Ukrainer eigentlich Russen sind und man nur die prowestlichen Eliten entfernen muss. Dieses Szenario existiert nicht mehr. Daher dreht sich dieser Krieg für Putin nicht mehr um die Ukraine. Er dreht sich um die internationale Ordnung. Er sieht den Krieg viel mehr als einen gegen die Nato und die USA. Daher glaube ich nicht, dass es echte Friedensverhandlungen in der Ukraine vor den US-Wahlen gibt. Er glaubt, wenn es einen Wechsel in den USA gibt, wird das auch auf Europa starke Auswirkungen haben.

STANDARD: Erwartet er, dass die Unterstützung der Europäer nachlässt?

Krastev: Zunächst einmal will er die Unterstützung für die Europäer so teuer wie möglich machen. Deshalb hat er das Getreideabkommen beendet, denn der Getreideexport ist so wichtig für die Ukraine wie der Ölexport für Russland. Er wartet ab und schaut, was kommt, vor allem in den USA. Solange die Russen zu Anfang des Krieges nicht gewonnen haben, haben sie in Wirklichkeit verloren. Nun haben wir eine andere Situation. Solange die Ukrainer mit ihrer Gegenoffensive nicht gewinnen, verlieren sie.

STANDARD: Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg sagte kürzlich, wir müssten zwischen Putin und dem russischen Volk unterscheiden. Aber das russische Volk akzeptiert Putin.

Krastev: Das ist richtig, und es unterstützt diesen grausamen Krieg. Aber die Amerikaner unterstützten zunächst auch den Irakkrieg. Es ist naiv zu glauben, dass das nur Putins Krieg ist und die Russen nichts damit zu tun haben. Aber es ist nicht der einzige ungerechte Krieg, der vom Volk unterstützt wird.

STANDARD: Wie lange müssen wir mit den Folgen des russischen Imperialismus rechnen?

Krastev: Erstens: Russland wird nicht verschwinden. Zweitens: Der Westen kann die Zukunft Russlands nicht entscheiden und gestalten, weder im Guten noch im Schlechten. Das ist Sache der Russen. Daher sollte sich Europa grundsätzlich vorbereiten. Auch darauf, sich selbst zu verteidigen, egal, was mit Russland geschieht. Wir stehen vor einer langen Zeit, für die wir nicht vorhersagen können, wie sich die Situation entwickelt. (Hans Rauscher, 26.8.2023)