Tagebuch Johann Haller
Die abenteuerliche Reise der k. u. k. Nordpolexpedition wurde von dem Mitreisenden Johann Haller in seinen Tagebüchern festgehalten. Seine Aufzeichnungen machen die großen Strapazen erfahrbar, denen die Entdecker gegenüberstanden.
Harald Haller

Kaum ein Unterfangen der k. u. k. Krone birgt mehr Stoff für Hollywood als die abenteuerliche Payer-Weyprecht-Expedition (1872 bis 1874) zum Nordpol. Ein Jahr im Packeis eingeschlossen, driftet die Mannschaft auf ihrem Schiff, der Admiral Tegetthoff, ins Ungewisse. Am 30. August 1873 entdeckt die Besatzung eine Inselkette und nennt sie Franz-Josef-Land. Lange bleibt die rettende Küste zu fern, um an Land zu gehen. Danach erkunden die Männer unter Strapazen den Archipel, bevor sie im Frühsommer 1874 ihr noch immer festsitzendes Schiff aufgeben und den Rückweg mit Schlitten und Booten antreten müssen.

Teil der 24-köpfigen Mannschaft, die im Juni 1872 von Bremerhaven aus in See sticht, ist auch Johann Haller. Am 30. Juni 1844 in St. Leonhard in Passeier geboren, lernt der junge Mann im Krieg von 1866 gegen Italien und Preußen Oberstleutnant Julius von Payer kennen. Unter seiner Leitung vermisst Haller nach Kriegsende die neuen Grenzverläufe. Vier Monate dauert dieser Einsatz, während dem fast täglich ein anderer Berg bestiegen wird. Nach neun Monaten ohne Kontakt trifft am 1. Februar 1872 ein Brief bei Haller ein. Absender ist Julius Payer, der sich mit einem ungewöhnlichen Angebot an seinen Freund wendet:

Lieber Haller! Es freut mich, daß ich Dich endlich entdeckt habe (...). Ich beabsichtige eine Reise von zweieinhalbjähriger Dauer nach sehr kalten Gegenden, in welchen es keinen Menschen, dafür Eisbären gibt, und wo die Sonne mehrere Monate unausgesetzt scheint und dann wieder mehrere Monate gar nicht. Ich mache nämlich eine Nordpolexpedition.

Briefe von Julius Payer, Expedition Franz-Josef-Land.
Julius Payer bat Johann Haller in Briefen nicht nur um seine Teilnahme an der Nordpolexpedition. Auch nach dieser Reise übermittelte er auf diese Weise Hochzeitsglückwünsche und tauschte sich mit Haller über dessen Laufbahn aus.
Harald Haller

In der Folge erörtert Payer die Konditionen, Haller werde gekleidet, bewaffnet, verköstigt und erhalte mindestens 1000 Gulden Papier. Der Brief schließt wie folgt: Wir werden Kälte wie Gefahren haben. Scheut Dich das? Ich habe bereits zwei solche Reisen glücklich durchgemacht, und das, was ich tue, das tust Du auch. Dein Freund Payer.

Dieser unerwartete Brief habe nicht nur seinen Ururgroßvater Johann Haller in Aufregung versetzt, erzählt sein Ururenkel Harald Haller dem STANDARD. Der ganze Ort St. Leonhard war in Aufruhr. "Es wurde sogar der damalige Pfarrer zurate gezogen und riet zur Teilnahme an der Reise", schildert er. Als ein zweiter Brief von Payer eintrifft, erteilt Johann Haller seine Zusage und wirbt auch Alexander Klotz für die Expedition an.

Zwei Briefe von Julius Payer an Johann Haller

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Zwei Briefe von Julius Payer an Johann Haller

Exklusive Einblicke

Dass wir heute Einblick in diesen Briefwechsel und in die Tagebücher eines Nordpolreisenden bekommen, ist dem Engagement von Harald Haller geschuldet. Als Reaktion auf einen im Juni erschienenen STANDARD-Artikel zur Nordpolexpedition postet er im Forum die Tagebucheinträge seines Ururgroßvaters. Wir kommen in Kontakt, tauschen uns über die Gegenstände aus, die von Generation zu Generation in der Familie weitergegeben wurden. Als das Haus des Großvaters vor einigen Jahren verkauft und ausgeräumt wurde, sah Harald Haller erstmals alle Dokumente.

Tagebücher von Johann Haller, Expedition Franz-Josef-Land.
Zwei unscheinbare Büchlein begleiteten den gebürtigen Südtiroler Johann Haller auf seiner abenteuerlichen Reise. Sie lassen einen nachvollziehen, wie beschwerlich die Nordpolexpedition ablief.
Harald Haller

Jahre später fasziniert ihn beim Abtippen des Tagebuchs nicht nur dessen Alter, sondern auch die Vorstellung seiner weiten Reise. Etwa "dass es das Ächzen des Holzes durch die Eispressung 'gehört' hat, nur wenige Meter entfernt von den Eisbär-Begegnungen war, in klirrender Kälte nach Verlassen des Schiffes im Zelt beschrieben wurde oder bei den Feierlichkeiten nach der Rückkehr im Hotelzimmer wartete". Da die Unterlagen stets in Wohnräumen gelagert wurden, seien sie bestens erhalten. "Das Papier der Tagebücher ist griffig, die Stoffteile des Einbandes noch schön weich", beschreibt Haller.

Aufgeschlagene Tagebücher von Johann Haller, Expedition Franz-Josef-Land.
Das erste Tagebuch wurde auf dem Schiff in Tinte geführt. Als die Admiral Tegetthoff aufgegeben wurde, war Tinte keine Option mehr. Sie hätte zu viel Platz weggenommen und wäre wohl auch ständig eingefroren. Haller stieg daher auf Bleistift um.
Harald Haller

Abschrift des Tagebuchs von Johann Haller mit Anmerkungen von Harald Haller

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Abschrift des Tagebuchs von Johann Haller mit Anmerkungen von Harald Haller

Der erste Eintrag des Tagebuchs stammt vom 26. April 1872: Abends halb 10 Uhr, mit der Eisenbahn nach Kapfenberg. Ankunft dort um 4 Uhr früh. Zwei Stunden geschlafen. Das Abenteuer, das für die Entdecker mehr als zwei Jahre dauern soll, beginnt am 13. Juni 1872: Wir haben uns eingeschifft und sind von Bremerhaven fortgefahren, in die Nordsee, auf das offene Meer. Den ersten Tag seekrank.

Am 13. August 1872 kommt es zu einer Begegnung mit einem Schiff unter österreichischer Flagge. Wie sich herausstellt, ist Graf Wilczek an Bord, der als Gönner die Payer-Weyprecht-Expedition finanziert. Um sechs Uhr ist der Graf mit seiner Begleitung schon auf unser Schiff gekommen. Es war eine große Freude für uns alle, hält Johann Haller fest.

Detailaufnahme Tagebuch Johann Haller Expedition Franz-Josef-Land.
Einblicke in ein historisches Dokument: Das aufgeschlagene Tagebuch von Johann Haller.
Harald Haller

Gefangen im treibenden Eis

Am 21. August trennen sich die Wege der Schiffe, bald kommt es zu einem schicksalhaften Moment: 22. 8. Donnerstag: Schnee und Wind. Im Eismeer eingefroren. Den ganzen Tag kein Wasser gesehen, sondern alles Eis, soweit die Augen sehen konnten. Auf dem festsitzenden Schiff geht die Furcht um, von den Eismassen zerdrückt zu werden. Gleiches passiert im Oktober: 26. 10. Samstag: Nebelwetter. Neuerdings eine Eispressung. Ein jeder von uns glaubte, daß das Schiff zerdrückt werden müße. Wir haben das Schiff ausgeplündert, Tag und Nacht gearbeitet und die Sachen auf die Eisschollen geschafft.

Expeditionsschiff Admiral Tegetthoff, Expedition Franz-Josef-Land.
Ein Gemälde zeigt das im Packeis festsitzende Expeditionsschiff Admiral Tegetthoff der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition.
ÖAW

Im November erkrankt Johann Haller an Gliederreißen, also starken Gelenksschmerzen. Am 9. November notiert er: Was soll ich mir bei einer solchen Krankheit im hohen Norden denken? Die dreimonatige Polarnacht, mit minus 20 bis minus 40 Grad. Unter dem Matrosentumult leben oder sterben. Nach vier Tagen kommt er auf die Beine, seine Kraft kehrt erst nach Wochen zurück. Monatelang treiben Schiff und Besatzung durch unbekannte Gewässer. Sie bekommen dabei regelmäßig tierischen Besuch, der teils zur Verpflegung erlegt wird.

Eisbären und verlorene Zehen

Auch am 20. Februar 1873 besucht ein Eisbär die Admiral Tegetthoff. Haller und Klotz stellen dem Bären nach. In der Eile verlassen sie das Schiff in nassen Stiefeln. Wir waren fünf Stunden abwesend und erfroren uns beide die Füße, hält Haller fest. Er verliert beide großen Zehen, Klotz den rechten Fußballen.

Eingeschlossen im Eis, begeht Johann Haller am 29. Juni seinen 30. Geburtstag. In der Nacht haben der wachhabende Offizier und ein Matrose einen Bären erlegt. Eine große Freude, wie Haller festhält: Dann wurde ich geweckt, um den Bären abzuziehen. Zur gleichen Zeit, da ich das dreißigste Lebensjahr erreiche, ziehe ich den Eisbären aus. Das ist ein schönes Geburtstagsgeschenk.

Grund zu feiern gibt es auch am 18. August, den Haller als großen Festtag im Polarmeer beschreibt: Es ist der Geburtstag Kaiser Franz Josefs. Im Tagebuch ist notiert: Die Kriegsmarine hat uns für diesen Tag eine Kiste mit Geschenken mitgegeben. Die Kiste wurde geöffnet. Sie enthielt Champagnerwein, türkischen Tabak, Fische, Rum, Virginiazigarren und noch mehr solche Sachen, die ich hier nicht alle nenne. Zum Verteilen der Sachen wurde eine Lotterie gemacht. Ich habe gewonnen: eine Tabakpfeife, Zigarren und eine Blechbüchse. Das Rauch-Utensil ist eine Meerschaumpfeife, die sich noch im Besitz der Familie Haller befindet und die nach wie vor nach Tabak riecht.

Meerschaumpfeife, Expedition Franz-Josef-Land.
Am 18. August 1873 gewinnt Johann Haller bei der Lotterie an Bord der Admiral Tegetthoff eine Meerschaumpfeife. Sie befindet sich bis heute in Besitz der Familie Haller.
Harald Haller

Neuland am Horizont

Monarchengeburtstag hin oder her, kurze Zeit später lässt ein unerwartetes Ereignis die Mannschaft jubeln. Am 30. August 1873 schreibt Haller: WIR HABEN EIN NEUES LAND ENTDECKT. Wir machten einen Versuch, dem Land näher zu kommen, sind aber zu einem Kanal gestoßen und kamen nicht mehr weiter. Fünf Viertelstunden vom Schiff entfernt haben wir das Land beobachtet. Es war eine große Freude für uns alle. Das Land hat von uns den Namen "Kaiser-Franz-Joseph-Land" bekommen.

Payer, Haller und Klotz können am 1. November erstmals an Land gehen. Der heutige Tag war für die Expedition ein großer Freudentag, notiert Haller. In den kommenden Monaten unternehmen die Männer Expeditionen auf Franz-Josef-Land. Teils werden diese zu Fuß, teils mit Hundeschlitten bewältigt.

Illustration der Erkundung von Franz-Josef-Land.
Die Erkundung und Kartierung des neu entdeckten Archipels Franz-Josef-Land im hohen Norden, dargestellt in einer Illustration aus dem Jahr 1880. Erschienen ist diese in der mexikanischen Wochenzeitung "El Mundo Ilustrado".
imago images/Jerónimo Alba

Am 1. März erfährt die Mannschaft, dass sie die Admiral Tegetthoff verlassen muss. Trotz achteinhalb Stunden täglicher Arbeit, um das Schiff freizubekommen, scheitern alle Versuche. Es wird beschlossen, drei Beiboote zu packen, diese auf Kufen über das Packeis zu ziehen und so die offene See zu erreichen. Davor ist das einzige Todesopfer der Expedition zu beklagen.

Schmerzlicher Abschied

16. 3. Montag: Helles Wetter und Wind. Für die Schlittenreise Vorbereitungen gemacht. Nachmittag um halb 4 Uhr ist unser Maschinist Otto Krisch verstorben! Gott gebe ihm die ewige Ruhe! Am 20. Mai beginnt der Rückweg, wie Haller notiert: Jeder hat seine Sachen zusammengepackt und sich zur Abreise angezogen. Am Abend sind wir mit Sack und Pack vom Schiff fortgefahren. Es begann die Rückreise nach Europa. Am 4. Juni machen Carl Weyprecht, Haller und neun Matrosen kehrt, um wegen Platzmangels ein viertes Boot auszurüsten und nachzuschleppen.

Begräbnis von Otto Krisch.
Ein Gemälde des Begräbnisses von Maschinist Otto Krisch. Seine letzte Ruhestätte auf der Wilczek-Insel gilt als die nördlichste Grabstätte der Welt.
ÖAW

Am 15. August ist die Besatzung der Nordpolexpedition ein letztes Mal im Treibeis eingeschlossen, erreicht aber letztlich das offene Polarmeer. Haller schreibt: Mit einem dreifachen Hurrah verließen wir das letzte Eis. Ich wurde gleich seekrank. Tags darauf erblicken Haller und seine Gefährten das Gebirge von Nowaja Semlja, das alte bekannte Gebirge, das wir vor zwei Jahren aus den Augen bekommen hatten.

Wenig später, am 24. August, treffen alle vier Boote wieder aufeinander, die Mannschaft ist vereint. Der verbliebene Proviant wird aufgeteilt, die Fahrt geht weiter. Am Abend trifft der Trupp auf ein Fischerboot mit zwei Matrosen. Es sei eine große Freude für alle, vermerkt Haller, denn das war ein Zeichen, daß ein Schiff in der Nähe ist. Nach zwei Stunden erreichen sie zwei russische Fischerschiffe und werden mit aller Höflichkeit aufgenommen.

Eisbärenzähne.
Im Fundus von Johann Haller finden sich auch Eisbärenzähne, die später sein Wohnhaus zierten.
Harald Haller

Gefeiert wie Superstars

25.8. Dienstag: Unser Kommandant hat mit dem Kapitän des Schiffes die Bedingungen vereinbart, unter welchen er uns bald nach Vardö in Norwegen und somit nach Europa bringen soll. Am Abend des 3. September trifft die Mannschaft in Norwegen ein, am 5. September beginnt die Fahrt Richtung Hamburg. Bis dort ist es eine Reise von 18 Tagen.

8.9. Dienstag: Maria Geburt. Wir erreichten Tromsö, die Heimatstadt unseres Harpuniers Olaf Carlsen. (...) Alle Schiffe hißten ihre Nationalflaggen, und die ganze Stadt wurde beflaggt. Im Hafen entstand ein großer Volksauflauf. Alles ist gekommen, um uns willkommen zu heißen.

Am 22. September läuft die Mannschaft auf dem Dampfschiff Finmarken Hamburg entgegen. Entgegenkommende Schiffe begrüßen sie mit Kanonenschüssen und Hurrarufen. Am Nachmittag begegnen sie einem Dampfer, auf dem Graf Wilczek mit einer Delegation aus Wien wartet. Gemeinsam wird die Fahrt fortgesetzt, an Bord geht ein Festmahl über die Bühne, das mit Champagner beschlossen wird.

Ankunft in Wien.
Am 25. September 1874 kommt die Besatzung der Tegetthoff am Nordbahnhof in Wien an. Sie wird unter immensem Aufsehen von tausenden Menschen begrüßt und gefeiert.
IMAGO/piemags

25.9. Freitag: Helles Wetter und Sonne. Von Berlin sind wir nach der österreichischen Grenze gefahren. Dort wurden wir am gezierten Bahnhof mit Böllerschüssen empfangen. Um 5 Uhr abends sind wir in Wien angekommen. Da war ein großer Volksauflauf, wie er in Wien vorher bei einem solchen Empfang noch nicht stattgefunden hat.

Vom Polarfahrer zum Forstwart

Der letzte Eintrag des Tagebuchs stammt vom 7. Oktober 1874: In Innsbruck zur k. k. Statthalterei. Zum k. k. Forstwart ernannt und beeidet worden. Alle Teilnehmer der Nordpolexpedition werden in den Staatsdienst übernommen. Zwei Monate nach seiner Rückkehr heiratet Johann Haller und erhält 1875 die Försterstelle in Obsteig in Tirol. Ein Jahr später ist er Gründungsmitglied der örtlichen Feuerwehr.

Im Jahr 1906 verstirbt er in Obsteig. Sein geschichtsträchtiger Nachlass wurde schon öfter an Ausstellungen verliehen. Sein Ururenkel Harald Haller will die historischen Dokumente und Gegenstände einem Museum überantworten, sobald sie an ihn gehen. Mit einer Ausnahme: Die Meerschaumpfeife seines Ururgroßvaters wird er behalten. (Marlene Erhart, 30.8.2023)