Wokeness Philosophie Aufklärung Race
Philosophin Susan Neiman erblickt in den Ritualen der "Woken" eine Abkehr von der Idee der Allgemeinheit.
imago/Jürgen Heinrich

Eine Zeitlang sah es so aus, als wäre der größte Vernunftphilosoph deutscher Zunge um seinen Ruf gebracht worden: den, als Universalist und Aufklärer unvoreingenommen zu sein. Der Königsberger Immanuel Kant hat sich, wenngleich an entlegenerer Stelle in seinem Werk, mit Geringschätzung über Menschen mit nichtweißer Hautfarbe geäußert. Prompt fühlten sich "woke" Kritiker dazu aufgerufen, die europäische Aufklärung, mit ihr die Vernunftappelle Rousseaus, Voltaires, Diderots, in Bausch und Bogen abzutun.

Prompt auch möchte man US-Philosophin Susan Neiman spontanen Dank aussprechen. So einfach lassen sich die unbestechlichen Analytiker menschlicher Urteilskraft eben in keinen Sack stecken, auf dem "Rassismus" steht. Es ist bestenfalls halb wahr zu behaupten, die Aufklärer hätten den Kolonialismus mit Weihen der Vernunft versehen. Daran ändern auch nachträgliche Versuche gestandener Imperialisten nichts, die gewaltsame Aneignung von Welt als Maßnahme der "Zivilisierung" schönzureden.

Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, geht in ihrem neuen Büchlein Links ≠ woke einen wichtigen Begründungsschritt weiter. Ein Autor wie Montesquieu machte fiktive Perser zum Sprachrohr seiner Kritik an den Sitten der Europäer: weil er sie als Franzose nicht in der nämlichen Schärfe hätte äußern können. Ritt Voltaire im 18. Jahrhundert einen Angriff auf das Christentum, setzte er mitunter den Kaiser von China – oder einen indigenen Priester aus Südamerika – aufs rhetorische Ross. Neiman möchte nicht nur das Erbe der Aufklärung möglichst unbeschadet zurückerstattet haben. Sie kämpft um den Ruf der "Linken" als Gattung. In den "Woken" erblickt sie dagegen Vertreter des Stammesdenkens.

In immer neuen Partikularitäten werde von ihnen das Pathos der Opferschmach wachgerufen. Dadurch wird zur Essenz menschlicher Erfahrung das erklärt, was Menschen fremdbestimmt. Die Prägung durch zwei Identitäten macht uns zu Gefangenen von etwas, das (angeblich) von vornherein festgelegt ist, von "race" und "gender".

Hoffnung auf Fortschritt

Völlig aus dem Blick gerate dabei, so Neiman, das Unterpfand jeder Hoffnung auf Fortschritt, die unteilbare Universalität menschlichen Trachtens, Denkens und Fühlens. Die Erhabenheit dieses Gedankens schöpft die Philosophin aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die wurde 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Der Weg von dort hin zu einem "partizipatorischen Sozialismus" (Thomas Piketty) scheint, trotz aller wohlmeinenden Absichten, in den Halbschuhen des Liberalismus nur schwer bewältigbar zu sein.

Lieber aber kapriziert sich Neiman auf die Entlarvung ihr viel wichtigerer Gegner. Dunkelmänner wie Carl Schmitt und Michel Foucault (!) hätten das einigende Band der allgemeinen Menschenliebe schnöde durchschnitten. Ersterer durch seine Freund-Feind-Unterscheidung; der Zweite, indem er die Mikrophysik der Macht als Form der Unterdrückung beschrieb.

Neiman wendet ihr Haupt voll Abscheu ab. Sie schreibt: "Links sein heißt, hinter der Idee zu stehen, dass Menschen gemeinsam für sich und für andere beträchtliche Verbesserungen ihrer realen Lebensumstände erwirken können."

Büchse der Pandora

Dem wird, so allgemein dahingesagt, auch jeder "Woke" seine Zustimmung nicht versagen können. Doch vielleicht ist besagter Standort "hinter der Idee" auch nur zu unkonkret, als dass man, von ihm aus losgehend, jenes Land gewänne, in dem für alle die Zitronen blühen. Ein Land, in dem Menschen nicht einzig und allein wegen ihrer Hautfarbe erniedrigt und von Polizeiangehörigen ermordet werden.

Nietzsche schrieb einst, kein Übel in Pandoras Büchse sei so übel wie die Hoffnung, sie sorge dafür, dass sich die Qual der Menschen unendlich verlängere. Neiman, deren Buch leider vor Leder sprüht, hat für den unglücklichen Philosophen mit dem Hammer kein Verständnis: "Wer nur um seine Seelenruhe besorgt ist, mag solche Haltungen annehmen …"

Stimmt, einzig in Rücksicht auf seine gefährdete Seelenruhe hat Nietzsche in Turin ja auch ein geschundenes Pferd umarmt. Sehr viel universeller lässt sich die Idee des Mitgefühls kaum in Anwendung bringen. (Ronald Pohl, 30.8.2023)