It-Girl Hilton Mode Metaversum
Bitte machen Sie eine charakteristische Handbewegung: Paris Hilton auf einer Versace-Modeschau in West Hollywood.
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Es bedarf einer ganzen Reihe von Techniken der Daseinsbewältigung, um die größte Influencerin der Welt zu werden – und es während der darauffolgenden 20 Jahre auch zu bleiben. Im Falle von US-Hotelerbin Paris Hilton gehört dazu: professionelle Hautpflege. Ein "Feierbiest", das von Party zu Afterparty taumelt, muss mitgenommene Stellen wirksam abdecken können.

Freihändiges Gehen, am besten in Heels. Hilton nennt ihren Gang, der sie auf die Laufstege dieser Welt geführt hat, den "Einhorntrab", eine drollige Art der Fortbewegung. Mit Tieren hält sie innige Zwiesprache. Hilton verfügt von Kindesbeinen an über einen Streichelzoo, der Michael Jacksons Privatbemühungen um die Tierwohlfahrt noch nachträglich in den Schatten stellt. Dass ihre schwer bewachten Hündchen Namen wie "Harajuku Bitch" tragen – geschenkt.

Paris Hilton bewegt sich, möchte man ihrer neuen Autobiografie Mein Leben Glauben schenken, ohne Unterlass. Wenn Freiheit bedeutet, an keiner Art der Ortsveränderung gehindert zu werden, dann hat Hilton Freiheit ohne jedes Maß genossen. Die heute 42-jährige "Ikone der Nullerjahre" kannte nicht nur jeden Club zwischen Palm Springs und dem Waldorf Astoria – mitsamt dem dazwischenliegenden Kontinent. Das It-Girl verfügte über das schlechthin ultimative Gespür für alle Gangarten im Neokapitalismus: weltweit.

Im Damensattel

Sie trug der Modezaren neue Kleider – und kassierte dafür Unsummen Geldes. Hilton war sich für nichts zu gut. Der Luxus, den sie an sich zog, indem sie sich anzog, schien immens. Doch jede neue Errungenschaft, das "Chainmail-Kleid von Julien MacDonald", jeder neue Gesichtsausdruck für das Selfie, alles blieb (und bleibt) für alle Zeit konvertierbar. Paris Hilton gelang es, noch die größte Schmach zu "valorisieren". Ihr Sextape, das für zarter besaitete Influencerinnen das Karriereende bedeutet hätte, festigte eher ihr Image als Teflonprinzessin mit Piepsstimme.

Hilton wurde zum Inbegriff der Wertschöpfung. Ihre überraschend packende Autobiografie stellt ihr Image nicht unbedingt vom Kopf auf die Beine. Aber sie enthüllt die Tragelasten, unter deren Gewicht die Blonde ins Scheinwerferlicht schritt: umwerfend, unantastbar. "Ich kann alles in Heels!" Und sie kann, wie sie stolz bekennt, auch allerhöchste Zäune im Beisein lästiger Paparazzi hochklettern, ohne dabei eine Ansicht des Intimsten freizugeben: "im Damensattel".

Der "Betonblock der Scham", der auf Hilton lastet, wurde ihr ausgerechnet in den so wichtigen Teenagerjahren aufgebürdet. Ein paar Jugendexzesse nahmen die Eltern von Klein-Paris zum Anlass, den Wildfang in die Obhut von Bootcamp-Betreibern zu geben.

Die Szene ist bizarr. Paris, die Partylöwin, wird von "fleischigen Händen" aus ihrem Luxusbett gezerrt. Man übergibt die Aufmüpfige ohne Umschweife der "Troubled Teen Industry", die gegen gutes Geld Zöglinge wie aufsässige Tiere behandelt. Hilton wird in mehreren solcher "Anstalten" demütigend misshandelt. Körperliche Bloßstellung bildet das Hauptmerkmal der schwarzen Pädagogik, die die Schergen an den Halbwüchsigen praktizieren – zumal den weiblichen.

Titanische Anstrengung

Die spätere Rückkehr in ihr enorm abnormes Leben kostet Hilton titanische Anstrengungen. Sie empfindet Scham. Ihre ADHS-Erkrankung wird überhaupt erst in ihren Zwanzigern diagnostiziert. Da gehört ihr bereits ein ganzes Imperium aus Duftstoffen und Pflegepräparaten, ganz zu schweigen von den Schwebeübungen über roten Teppichen.

Paris wird zur Meta-Kuratorin. Sie streut mit unbewegter Miene Feenstaub auf den Plunder der Kulturindustrie. Sie mimt sich selbst, lacht herzlich mit, und wenn sie sich doch einmal eine Blöße gibt, setzt sie paradoxerweise aufs Vergessen. Mit der Unverrottbarkeit von Youtube-Einträgen findet sie sich ab. Ihr Buch vollbringt eine Unmöglichkeit. Hilton, über der eigenen Allgegenwärtigkeit zur Alterslosen geworden, platziert sich mit erfrischend witziger Prosa in einem komplett neuen Feld. Sie legt Missbrauch als Quelle ihrer Hyperaktivität offen. Sie fordert die Gefolgschaft zum Misstrauen auf: Benennt jene Instanzen, die über euch und eure Körper verfügen! Paris Hilton – mein Leben gehört zur Gruppe der freundlich getönten Streitschriften. Weibliches Schweigen über Missbrauch und Misshandlungen drückt unter keinen Umständen schweigende Duldung aus.

Paris Hilton hat für ihr Anliegen – Bootcamp-Betreibern das Handwerk zu legen – vor den gesetzgebenden Kammern in Washington lobbyiert. Gleich danach kommt: Sie hat ein kluges, kurzweiliges Buch geschrieben. Die Sache mit den Nacktbildern kann sie heute verwinden: "Es wird nie verschwinden, selbst wenn ich die Klimakrise dank der Erfindung eines mit Fanta betriebenen Hochgeschwindigkeitszugs lösen würde." Da kann man ihr ruhig verzeihen, dass sie künftige Kinder London und Phönix nennen möchte. (Ronald Pohl, 1.9.2023)