Theater-Regisseur Jakub Kavin spricht über seine Erfahrungen mit Übergriffen.
Foto: Heribert Corn

Ich habe die Bilder noch vor mir. Ich muss damals zehn oder elf Jahre alt gewesen sein und war in Wien tagsüber allein auf dem Weg. Ein großgewachsener, elegant gekleideter Mann sprach mich an. Er war etwa 50 Jahre alt, sprachlich versiert und weckte gekonnt meine kindliche Neugierde. Er habe eine schöne Wohnung gleich um die Ecke, er wolle mir etwas zeigen. Ich solle doch mitkommen, ich würde es nicht bereuen.

Es ist der Trieb des Menschen, gerade von Kindern und Jugendlichen, Dinge zu erfahren und Grenzen auszuloten. Dieser Impuls bringt uns voran, er öffnet uns Welten. Auch ich habe dieser Gier nach dem Unbekannten oft nachgegeben. Warum auch nicht? Ich wuchs als behütetes Kind auf, ich wähnte mich in Sicherheit. Da kann es durchaus passieren, dass man für einen kurzen Moment ausblendet, dass einem nicht alle nur Gutes wollen.

Nein, ich bin damals nicht mitgegangen. War es nur Instinkt oder doch eine gesunde Portion Misstrauen? Ich weiß es heute nicht mehr. Aber zweifellos hat sich diese Episode in mein Gedächtnis gebrannt. Manches verschwindet im Rückspiegel, manches bleibt. Die Berichte der vergangenen Monate haben mich getriggert. Ich denke, so ging es vielen. Man erinnert sich zurück, man stellt sich Fragen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich dem Mann damals gefolgt wäre? Der Gedanke macht mir Angst.

Mein Name ist Jakub Kavin. Ich führe die Theater-Arche in Mariahilf. Ich bin Schauspieler, Regisseur und Produzent. Warum ich jetzt die Erfahrungen von damals thematisiere? Weil über die Gefahren zu wenig gesprochen wird. Es gibt diese enorme Fallhöhe zwischen der vermeintlich sicheren Welt eines Kindes und dem Ausgeliefertsein an das Schändliche. Ich hatte Glück, andere haben es nicht.

Kavin über schwierige Zeiten: "Eine enorme Belastung für meine Familie."
Foto: Heribert Corn

Ich bin in der Theaterbranche aufgewachsen und stand bereits als Teenager auf der Bühne. Im Theater Brett spielte ich zwischen 1987 und 1989 den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry. Er zieht in die weite Welt und begegnet dabei vielen Menschen. Nicht alle meinen es gut. Das Stück war ein riesiger Erfolg, wir waren ständig ausverkauft. Die Rolle hat mich fasziniert, ich stand im Mittelpunkt, das hat mir gefallen – aber ich war exponiert.

Es gab damals einen Stalker. Ein Herr Doktor irgendwas. Es fing eigentlich harmlos an. Er kam regelmäßig zu den Vorstellungen, bezeichnete sich als Fan, ergoss sich in grenzenlosen Lobhudeleien. Später kam es zu unangemessenen Nachrichten. Sie waren übergriffig und grenzüberschreitend. Die Situation eskalierte. Auch die Gespräche mit meinen Eltern brachten den Mann nicht zur Vernunft.

Schlussendlich wurde ihm ein Hausverbot erteilt. Trotzdem wartete er vor dem Theater auf mich oder lauerte mir auf dem Heimweg auf. Ich solle doch meine Eltern verlassen und zu ihm ziehen. Völlig durchgeknallt. Die Angelegenheit war eine enorme Belastung für meine Familie, mein Vater spricht heute noch von einem "Drama". Es kam nie zu einem körperlichen Übergriff, aber wenn ich daran denke, kommt mir noch immer das Kotzen.

Ich war mit der Situation im Theater oft überfordert. Man kann sich sein Publikum nicht aussuchen. Und manchmal ist man quasi Freiwild. Als ich gerade 18 Jahre alt war, führten wir im Brett Die Höllenmaschine von Jean Cocteau auf. Im Falter erschien eine sexuell erregte Kolumne über das Stück. Es war von einem "Jüngelchen" die Rede und endete irgendwie mit Masturbation und einer Ejakulation. Da hat mich die Scham gepackt.

Kavin über Erfahrungen in der Schule: "Vielleicht hätte ich Grenzen setzen müssen. Aber kann man das von einem Schüler erwarten?"
Foto: Heribert Corn

Auch in der Schule war nicht alles, wie es sein sollte. Ich war 16 oder 17 Jahre alt, als ein Lehrer meine körperliche Nähe suchte. Er war ein sehr gebildeter Mann, für viele ein Mentor. Er streichelte in der Klasse oft über meine Schultern. Er war mir als Typ nicht unsympathisch. Es war manchmal unangenehm, aber nicht grauslich. Ich war kein guter Schüler, meine Zeugnisse waren unterdurchschnittlich. In jenem Jahr stiegen meine Noten schneller an als meine Leistungen.

Er lud mich ein, an seiner Theatergruppe mitzuwirken. Dort hat er die Zweisamkeit gesucht. Es ergaben sich zwangsläufig Situationen, in denen nur wir beide im Raum waren. Dann hat er mich geküsst. Das alles war im schulischen Umfeld kein riesiges Geheimnis. Die Annäherungen waren offensichtlich, das war aus heutiger Sicht sehr schräg. Vielleicht hätte ich Grenzen setzen müssen. Aber kann man das von einem Schüler erwarten?

Vermutlich war ich damals ein gutes Opfer. Ich war auf der Suche, hatte keine fixe Identität. Ich habe die Schule gehasst, und er fing mich auf. Er gab mir das Feedback, das ich anderswo nicht bekommen hatte. Andererseits hat er mich als Balletttänzer auf die Bühne gestellt, obwohl ich noch nie zuvor getanzt hatte. Er machte mich so zum Lustobjekt. Er ging zu weit.

Ich will meine Erlebnisse nicht dramatisieren. Nichts davon hat mich kaputtgemacht. Aber in manchen Situationen hat dazu nicht viel gefehlt. Es ist ein schmaler Grat zwischen Erinnerung und Trauma. Heute haben die Jugendlichen mehr Selbstbewusstsein. Sie sagen "Mein Körper gehört mir", Tabus sind klarer definiert. Auch auf der Bühne. Die Aufarbeitung der Vorkommnisse im Sport- und Kulturbereich hat der Sache geholfen. Aber deshalb ist nicht alles gut. Reden wir darüber. (Protokoll: Philip Bauer, 5.9.2023)