Zwei Jahre lang hat Peter Eigner an den Wittgensteins geschrieben. Die Familie hat nicht nur große Unternehmer hervorgebracht, sondern auch den Philosophen und Cambridge-Professor Ludwig Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus).

STANDARD: In Ihrem Buch über die Wittgensteins geht es um drei Generationen einer "unglaublich reichen Familie". Um Hermann, den Gründervater, der mit Immobilien reich wird, seinen Sohn Karl, den mächtigen Eisen- und Stahlindustriellen, und dessen acht Kinder, die das ererbte Vermögen verwalten, bis es die Nazis rauben. Die erste Generation baut auf, die zweite expandiert, nach der dritten Generation ist es vorbei. Typisches Schicksal einer Unternehmerfamilie?

Autor Peter Eigner in seinem Büro, im Hintergrund ein Buchregal
Der Zeithistoriker Peter Eigner sieht in den Wittgensteins eine Familie mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Regine Hendrich

Eigner: Es ging nicht alles verloren, vor allem Immobilien blieben der Familie bis heute. Ganz typisch ist ihr Schicksal nicht, denn die dritte Generation stieg gar nicht mehr ins Geschäft ein.

STANDARD: Die Geschichte spielt im 19. und 20. Jahrhundert, in der Gründerzeit, der Zeit des Eisenbahnbaus, der Kohle-, Zucker-, Eisen-, Stahlindustriellen, Bankiers. Die Aufbruchstimmung muss riesig gewesen sein.

Eigner: Ja, "das Geld scheint auf der Straße zu liegen", sagte der Stahlindustrielle Paul Kupelwieser, man konnte also schnell an Vermögen kommen, wenn man geschickt war. Der Aufstieg Karl Wittgensteins war allerdings insofern besonders, als er genau in die Zeit der großen Depression fiel, nach dem Börsencrash 1873. Er übernahm 1878 sein erstes Werk, die Teplitzer Walzwerke, sein letzter großer Coup war die Übernahme der Alpine Montan 1896/97: Um die Jahrhundertwende war er auf dem Höhepunkt seiner Macht.

STANDARD: Gründervater Hermann hat die Güter der Esterházys saniert und wurde später mit dem Aufkauf von Land überschuldeter Bauern steinreich, Karl Wittgenstein machte seine Deals mit einer Gruppe eingeschworener Kollegen. Die richtigen Beziehungen waren damals schon wichtig?

Eigner: Beziehungen spielten eine sehr wichtige Rolle. Hermann hat in die Wollhändler- und Kaufmannsfamilie Figdor eingeheiratet und so den Kontakt zu Esterházys bekommen. Davon hat er stark profitiert. Bei Karl spielte zunächst der Eisenindustrielle Paul Kupelwieser eine große Rolle, dann scharte er die "Wittgenstein-Gruppe", seine Konsorten, um sich, mit denen er erste Beteiligungen erwarb und die auch immer wieder gemeinsam zum Zug kamen. Die Wittgensteins und andere Industrielle hatten enge Netzwerke, es gab viele "big linker", die zum Teil in mehr als 40 Aufsichtsräten saßen.

STANDARD: Hermanns Sohn Karl stieg nicht ins Immobiliengeschäft des Vaters ein, sondern wurde Ingenieur und begann bei den Teplitzer Werken. Er erwarb Unternehmen, sanierte, rationalisierte beinhart. War er einer der ersten modernen Kapitalisten?

Eigner: Karl war sehr hart, brachte eine Art von Raubtierkapitalismus in die Monarchie. Die Rationalisierungen waren mit der Auflösung von Standorten verbunden, in seinen Werken gab es viele Streiks, man warf ihm vor, die alte Sensenindustrie zerstört zu haben, wegen seiner Methoden wurde er "der Amerikaner" genannt. Er war aber auch sehr geschickt, erkannte sehr schnell den Nutzen neuer Patente und Technologien. Mit der Anwendung des Thomas-Verfahrens in der Stahlerzeugung bewirkte er freilich auch einen großen Verlust für die alpenländische Eisenindustrie: Dank dieses Verfahrens konnte man stark phosphorhaltiges Eisen verarbeiten, und das befand sich vor allem im böhmischen Teil der Monarchie, auf den sich Wittgenstein stark konzentrierte. Die alte Eisenindustrie im österreichischen Teil der Monarchie verlor, hier kritisierte man Wittgenstein als Zerstörer.

Der Industrielle Karl Wittgenstein im Porträt.
Karl Wittgenstein wurde von seinen Zeitgenossen "der Amerikaner" genannt, er sanierte, rationalisierte und expandierte.
ÖNB-Bild/Ferdinand Schmutzer/picturedesk.com

STANDARD: Ein kreativer Zerstörer?

Eigner: Ja, es war eine Art der kreativen Zerstörung. Aber das war der Zug der Zeit: Alle Industriellen stellten ihre Produktionsmethoden und Strategien um, er war dabei der Erste und Radikalste, einer der ersten modernen Unternehmer.

STANDARD: Er gründete zahlreiche Kartelle, auch dafür wurde er stark kritisiert. War er eine Heuschrecke?

Eigner: Ja, bis zu einem gewissen Grad. Die österreichische und die deutsche Wirtschaft waren zu dieser Zeit die am stärksten kartellierten Ökonomien, er war an zehn Kartellen beteiligt. Das Eisenkartell war mächtig und wichtig, die kleinen Kartelle waren nicht so bedeutsam.

STANDARD: Heute ginge das alles längst nicht mehr, damals war das erlaubt?

Eigner: Ja. Vieles von dem, was man heute als unsaubere Geschäftsmethoden bezeichnen würde, war aus damaliger Sicht nicht illegal. Heimliche Börsenmanöver mit Strohmännern, wie sie Wittgenstein tätigte, wird es heute da und dort aber auch noch geben.

STANDARD: Karl Kraus hat Wittgenstein scharf kritisiert.

Eigner: Er hat ihm "Slawisierung" vorgeworfen: Solche Hungerlöhne würden nur böhmische Mitarbeiter akzeptieren, nicht die deutschsprachigen. Den Stahlindustriellen Wilhelm Kestranek bezeichnete Karl Kraus als "Mann, der stahl". Kestranek wurde später der wichtigste Kompagnon Wittgensteins, saß auch in der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft.

STANDARD: Sie war eine der Großbanken der Monarchie. Sie alle spielten eine gewichtige Rolle für den Aufbau der Industrie.

Eigner: Ja, die Banken haben die Industrien finanziert, bei Wittgenstein tat das die Böhmische Escompte Bank, die später mit der Niederösterreichischen fusionierte. Da hatte Wittgenstein seine Finger im Spiel, wofür er kritisiert wurde. Er war dann sicher der einzige Industrielle, der sich eine Bank untertan gemacht hat. Sonst hatten die Banken die Industriellen unter sich.

STANDARD: Man sprach von "jüdischer CA", weil sie Rothschild gehörte, und "katholischer Länderbank". Wieso?

Eigner: Die Länderbank entstand erst 1880 und galt als eine Art Gegengewicht zu den älteren jüdischen Banken, vermutlich nahm die Regierung da Einfluss. Die CA war Rothschilds Bank, sie betrieb das Industriegeschäft.

STANDARD: Die CA besaß bis in die 1990er-Jahre Industriebeteiligungen – das hat damals begonnen?

Eigner: Ja, das waren die Beteiligungen, die sie zum Teil schon im 19. Jahrhundert hielt. Damals wurden Unternehmen in AGs umgewandelt, Papiere, die die Bank nicht losbekam, behielt sie selbst. Jede dieser Großbanken hatte mehr als hundert Beteiligungen, das waren Riesenkonzerne. Nach 1918 haben sich dann ausländische Investoren eingekauft, weil die österreichischen Banken inflationsbedingt billig zu haben waren und hohe Verluste schrieben.

STANDARD: Die Wittgensteins waren schwerreich, lebten im Prunkpalais und förderten Künstler wie Johannes Brahms, Gustav Mahler, Gustav Klimt, Josef Hoffmann und Adolf Loos. Karl förderte die Secession, seiner Tochter Margaret und ihrem Mann verdankt Österreich, dass die Akademie der Wissenschaften 1920 nicht pleiteging. Alles längst vergessen?

Die Halle im Palais Wittgenstein in der Alleegasse in Wien, heute Argentinierstraße
Das Palais Wittgenstein in der Wiener Alleegasse, heute Argentinierstraße. In den 1950ern wurde es von seinen neuen Eigentümern abgerissen.
ÖNB-Bildarchiv/Julius Scherb/picturedesk.com

Eigner: Vieles ist vergessen. Die größte Leidenschaft aller Wittgenstein-Generationen galt aber der Musik. Sie hatten ein riesiges musikalisches Verständnis, in ihren Briefen schrieben sie einander seitenlang über Kompositionen und Partituren, machten selbst schon im Kindesalter Musik. Viele Wittgensteins aus der dritten Generation hatten zwar besondere Fähigkeiten, aber einiges erinnert an Autismus, viele waren sozial kaum integriert. Der Bekannteste davon ist Ludwig Wittgenstein, der Philosoph und Mathematiker. Die Wittgensteins waren eine Familie von sehr schwierigen Personen mit besonderen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Dazu kam das protestantische Ethos: Hermann war ja zum Protestantismus konvertiert, verbot seinen Kindern, Jüdinnen oder Juden zu heiraten ...

STANDARD: Nur Karl tat es trotzdem.

Eigner: ... ja, wobei seine Frau ja auch schon zum Katholizismus übergetreten war. Die Wittgensteins fühlten sich gar nicht als jüdisch, obwohl sie ihre jüdische Herkunft wegen der antisemitischen Anfeindungen gar nicht vergessen konnten. Sie schoben das aber auf die Seite.

STANDARD: Wittgensteins wurden nie geadelt, warum nicht? Rothschild war Freiherr, Baron ...

Eigner: Karl hat das abgelehnt. Er wollte sich abgrenzen, wollte auch nie als Ringstraßen-Parvenü gelten - deswegen hat er sich vermutlich auch im 3. und später im 4. Bezirk niedergelassen. Damals wurden viele Juden geadelt, vielleicht kann man darin auch Wittgensteins antijüdische Einstellung ablesen.

STANDARD: Die Väter in der Familie Wittgenstein waren sehr streng, die Mütter mischten sich in deren Erziehungsstil nicht ein. Karl flüchtete als junger Mann vor seinem Vater vorübergehend in die USA, er selbst wurde aber ein ebenso strenger Vater. Drei von fünf Söhnen von Karl und seiner Frau Leopoldine beginnen Suizid. Die Wiederholung: das Schicksal der Wittgensteins?

Eigner: Das bleibt das große Rätsel. Viel deutet auf eine Wiederholung hin, man hat das Gefühl, Karl habe aus seinen eigenen Schwierigkeiten mit seinem Vater nichts gelernt. Erst seinen jüngsten Söhnen Paul und Ludwig erlaubte er, in öffentliche Schulen zu gehen: vielleicht ein erster Sinneswandel.

Ein Porträtfoto von Ludwig Wittgenstein
Ludwig Wittgenstein wurde einer der berühmtesten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er starb 1951 in Cambridge.
akg-images / picturedesk.com

STANDARD: Niemand aus der dritten Generation wollte Unternehmer sein. Paul wurde Pianist, Rudolf wollte Schauspieler werden, Ludwig wurde Mathematiker und Philosoph. Ausfluss der großbürgerlichen Erziehung, die Einblick in andere Metiers gab?

Eigner: In der Familie Wittgenstein erwies sich das als Fluch, weil die Kinder Karls ihre Interessen ja nicht leben durften – außer der Kriegsinvalide Paul, der als einhändiger Pianist zum Weltstar wurde. Ludwig wurde erst später eine Berühmtheit.

STANDARD: Obwohl man seinen 1921 veröffentlichten "Tractatus logico-philosophicus" selbst in Cambridge nicht ganz verstanden hat.

Eigner: Das machte zunächst wohl einen Teil seiner Berühmtheit aus. Er war ein Genie.

STANDARD: Seine Schwestern, Hermine, Margarethe und Helene, waren eigentlich sehr starke Frauen, blieben aber stets im Hintergrund. Das Schicksal ihrer Zeit?

Eigner: Hermine und Margarete waren auch sehr intellektuell, das wissen wir aus ihren Briefen. Hermine war nach dem Tod von Karl im Jahr 1913 Familienoberhaupt, sie hat der Vater auch geliebt. Sie haben karitativ gearbeitet, aus Margarethe hätte eine gute Wissenschafterin werden können.

Die Schwestern Wittgenstein und andere junge Frauen im Garten des Hauses in Neuwaldegg.
Hermine (links außen), Margarethe (2. von links) und Helene Wittgenstein (4. von links) und Gäste bei einem Gartenfest im Haus der Familie in Neuwaldegg.
ÖNB / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk

STANDARD: Die Nazis pressten der Familie den Großteil ihres Riesenvermögens ab, dafür durften die Schwestern Hermine und Helene in Österreich bleiben. Da wurde die Familie brutal auf ihre jüdische Herkunft gestoßen.

Eigner: Spätestens da, ja. Am Verhalten der Nazis sah man auch, dass es denen nur um das Vermögen der Familie ging. Im Gegenzug hat ihnen Hitler persönlich attestiert, dass sie deutschstämmig seien.

STANDARD: Was bleibt von den Wittgensteins? Die Villa in der Wiener Kundmanngasse? Zwei Landsitze in Niederösterreich? Die Voest Alpine als Nachfolgerin der Alpine, die Karl 1896 übernahm und die sein letzter Coup blieb, nachdem er sich zurückgezogen hatte?

Eigner: Ja, es gibt aber auch die nach Karls Frau benannte Poldi-Hütte im tschechischen Kladno, sie ist noch in Betrieb. In der Kunstgeschichte taucht die Familie immer wieder auf, und Ludwig wird die Geschichte überdauern. Die anderen Familienmitglieder wird man vergessen.

STANDARD: Die Wittgensteins – eine typische österreichische Geschichte?

Eigner: Es geht weit darüber hinaus, ihre Geschichte ist etwas für Hollywood, bietet sich für eine Verfilmung an. Es kommt alles vor, was dazugehört: Geld, Erfolg, Reichtum, Tragödien, Suizid, Homosexualität, Kunst und Genie. (Renate Graber, 10.9.2023)