Christina Clemm, Autorin von
Christina Clemm befasst sich seit Jahrzehnten als Juristin mit geschlechtsspezifischer Gewalt.
Alena Schmick

Christina Clemm vertritt vorwiegend Frauen, die geschlechtsbezogene Gewalt erlebt haben, und schreibt in ihrem neuen Buch "Gegen Frauenhass", warum selbst bei schwerer Gewalt gegen Frauen die gesellschaftlich tief verankerte Frauenverachtung nicht gesehen wird. Während Frauen immer wieder aufgefordert werden zu reden, schweigt allerdings weiter das Umfeld. Nach Problemen in Beziehungen und Familien zu fragen gilt noch immer als Tabu, sagt die Juristin.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich die Justiz weigert, das Problem zu verstehen. Warum ist das so?

Clemm: Die Justiz ist ein Abbild unserer Gesellschaft, und sie ist weniger ein progressives, eher ein konservatives Abbild. In der Justiz gibt es immer noch relativ wenig Wissen über Täterstrategien, und es herrschen Opfermythen, also Annahmen, wie sich "echte" Opfer verhalten würden. Zudem gibt es in dem Bereich ein großes Kapazitätenproblem, was dazu führt, dass man zu einfachen Lösungen neigt. Es fehlt die Zeit, um sich richtig fortzubilden und tiefer in die Materie einzusteigen.

Oft versuchen Richter und Richterinnen nur irgendwie, ihre Fälle zu bewältigen. Häusliche Gewalt ist ein Massenphänomen, und genauso wird es auch abgehandelt – anstatt zu sehen, wie dramatisch und oft auch komplex jeder einzelne Fall ist und welche gravierenden Folgen es hat, wenn man leichtfertig Verfahren einstellt.

STANDARD: Sie arbeiten seit fast 30 Jahren als Anwältin und schreiben, im Kern habe sich am Problem geschlechtsspezifischer Gewalt nichts geändert. Doch viele verwenden etwa seit einigen Jahren den Begriff Femizid, um auf das Problem als ein gesamtgesellschaftliches aufmerksam zu machen.

Clemm: Ich glaube, es gibt beides. Einerseits gibt es zunehmend ein öffentliches Sprechen darüber. Wenn man jetzt etwa das Beispiel des Fußballpräsidenten in Spanien (DER STANDARD berichtete) nimmt: Wahrscheinlich hätte man seinen Übergriff vor zehn Jahren bagatellisiert, und man hätte es kaum wagen können, öffentlich dagegen zu protestieren.

Andererseits nahm sich dieser Mann vor der Weltöffentlichkeit dieses Verhalten heraus und dachte wohl, es sich leisten zu können Und er findet sogar viele Verbündete, die sein Verhalten relativieren oder akzeptabel finden. Das Ziel wäre nicht, dass man härter bestraft, sondern dass Männer so etwas nicht mehr tun.

STANDARD: Sie sind auch Strafverteidigerin. Übernehmen Sie auch die Verteidigung von mutmaßlichen Tätern?

Clemm: Ich entscheide, jemanden zu verteidigen, nicht danach, ob ich glaube, das dieser Vorwurf stimmt oder nicht – sondern ob ich diese Person verteidigen möchte, wenn dieser Vorwurf zuträfe. Ich vertrete etwa viele Jugendliche oder Menschen, die Demonstrationsdelikte oder Raubtaten begangen haben sollen, aber nicht, wenn es um geschlechtsspezifische oder rassistische Gewalt geht.

STANDARD: Aber ist das nicht eine Vorverurteilung, dass mutmaßliche Täter von geschlechtsspezifischer Gewalt per se die Unwahrheit sagen?

Clemm: Ich verurteile niemanden, ich bin Anwältin. Wenn mir jemand gegenübersitzt, weil ihm etwa eine Vergewaltigung vorgeworfen wird, dann kann und will ich das nicht beurteilen. Aber bei solchen Vorwürfen verteidige ich grundsätzlich nicht, sondern empfehle Kollegen. Ich halte es auch für einen schlechten Verteidigungsansatz, Menschen nur zu verteidigen, wenn man von ihrer Unschuld überzeugt ist. Als Juristin muss ich einen offenen Blick haben und die Möglichkeit der Täterschaft der Mandantin mitdenken.

STANDARD: Ein Knackpunkt bei Gewalt gegen Frauen vor Gericht ist Ihren Schilderungen nach der Vorsatz und somit auch die Frage, ob Frauenhass als Motiv anerkannt wird. Ist das eine Verbindung zwischen dem individuellen Fall und dem strukturellen Problem?

Clemm: Nicht der Vorsatz, sondern das Motiv. Man muss unterscheiden zwischen Totschlag und Mord – beides ist vorsätzlich. Vorsatz bedeutet, dass man will oder zu mindestens in Kauf nimmt, dass die andere Person durch den Angriff stirbt, und man weiß, dass die Handlung tödlich sein kann. Für eine Verurteilung wegen Mordes muss ein besonders verwerfliches Motiv oder Begehensweise hinzukommen. Bei Femiziden wird häufig wegen Totschlags verurteilt.

Christina Clemm,
Christina Clemm, "Gegen Frauenhass", Euro 22,70 / 256 Seiten. Hanser Berlin, 2023.
Hanser Berlin

Denn bei geschlechtsspezifischer Gewalt wird häufig angenommen, die Tat sei spontan, aus Verzweiflung, bodenloser Enttäuschung geschehen. Die Gewalt wird nicht strukturell, immer nur individuell betrachtet. Natürlich ist jedes Delikt immer genau zu analysieren, jeder Täter handelt individuell, aber die Frage ist doch, worauf dieses Handeln beruht. Auf der Annahme, seine Frau besitzen zu dürfen?

Ich meine, dass viele dieser Taten auf emotionalen Gewohnheiten und frauenverachtenden Ressentiments beruhen.

STANDARD: Es wird oft kritisiert, dass gewalttätige Partner weiter ihre Kinder sehen können, wenn sie gegenüber den Kindern nicht gewalttätig waren. Wie sehen Sie das?

Clemm: Die Ansicht setzt sich langsam durch, dass auch miterlebte Gewalt schädlich für das Kindeswohl ist. Kinder müssen nicht mal im Raum gewesen sein, wenn die Gewalt passierte, um traumatisiert zu sein. Denn sie bekommen es ja mit, wenn sie gemeinsam mit der Mutter vor dem Mann fliehen, wenn die Mutter verletzt ist, wenn im Nebenzimmer geschrien wird.

Familiengerichte möchten oft, dass Mütter die erlittene Gewalt ihren Kindern verschweigen. Ich finde, das ist Unsinn, Mütter müssen ehrlich gegenüber ihren Kindern sein, sie können nicht sagen, ich habe hier einen blauen Fleck, weil ich gegen die Tür gerannt bin, wir ziehen bei Nacht und Nebel aus, weil euer Vater so ein toller Typ ist.

Die Kinder spüren die Angst der Mütter vor den Vätern, aber sie sollen ihren Kindern die Beziehung zum Vater ermöglichen und gutreden. Aber was macht das emotional mit einem Kind? Die Angst der Mutter zu spüren, aber nicht zu hören, was tatsächlich vorgefallen ist. Viele, auch in der Justiz, gehen davon aus, dass jemand einfach nur die Mutter schlägt, aber ansonsten ganz unproblematisch ist. Das ist abwegig, und darin steckt auch eine Schuldzuschreibung an die Frau, denn es bedeutet ja, dass es an ihr liegt, dass er zuschlägt.

Natürlich ist es gut, wenn Kinder Kontakt zu den Menschen haben, die sie aufziehen, und wenn sie liebevolle Kontakte zu mehreren Personen haben. Das muss nicht unbedingt der biologische Vater sein, es muss jemand sein, der weder ihnen noch ihren Müttern etwas antut und sie liebevoll begleitet. Ein gewalttätiger Vater muss erst an sich arbeiten und verstehen, was er getan hat. Und er muss seinen Kindern kommunizieren, dass er was falsch gemacht hat. Dass es seine Schuld ist, dass diese Familie auseinandergebrochen ist, und dass die Entscheidung der Mutter wegzugehen gut war.

Doch oft tut man so, als ob nichts passiert sei. Akute Gefahr gebannt, jetzt soll man zuversichtlich in die Zukunft schauen. Häufig erlebe ich übrigens, dass gewalttätige Väter während der Umgänge äußerst schlecht über die Mütter sprechen.

STANDARD: Nach einem Femizid gibt es oft großes Entsetzen – nachdem die Gewalt oft kleingeredet wurde?

Clemm: In der Regel beginnt Gewalt nicht mit dem Femizid, sondern mit vielen Gewalttätigkeiten vorher – und die werden auch vom Umfeld relativiert.

Frauen werden immer aufgefordert, ihr Schweigen zu brechen. Das wäre gut, aber ich glaube auch, dass das Umfeld endlich das Schweigen brechen muss. Dass wir alle hinschauen müssen. Es ist unglaublich schambesetzt, dass jemand mal sagt: Ich habe das Gefühl, es läuft nicht gut bei euch. Oder: Warum bist du denn so abwertend zu deiner Liebsten? Was ist da eigentlich passiert – warum war sie jetzt plötzlich weg? Niemand traut sich, weil man keinen falschen Verdacht äußern will, aber es wäre wichtig hinzuschauen, und wenn sich der Verdacht nicht bestätigt – umso besser. Aber es gibt ein großes Schweigen von allen.

Wir wissen, dass die meiste Gewalt in den Familien passiert, der gefährlichste Mann für eine Frau immer noch ihr eigener Mann ist. Ich habe nichts gegen Kleinfamilien, jeder Mensch sollte so leben können, wie er oder sie möchte. Aber wir müssen mit der Glorifizierung der Kleinfamilie aufhören, akzeptieren, dass sie Gefahren birgt, und verhindern, dass Personen von der Umwelt abgeschirmt werden. Also müssten wir dafür sorgen, dass sich Familien öffnen, dass andere Lebensformen akzeptiert und praktiziert werden, Kindern Ansprechpartnerinnen außerhalb der Familien etablieren, vor allem aber, wir müssen über den Frauenhass sprechen. (Beate Hausbichler, 6.9.2023)