1993 haben Archäologen in Israel eine merkwürdige Entdeckung gemacht: An der Ausgrabunsstätte 'Ubeidiya nahe Kinneret im Jordantal kamen mehrere Dutzend Steinkugeln ans Licht, über deren Ursprung sich Fachleute seither die Köpfe zerbrechen. Die Kugeln mit einem Durchmesser von rund sieben Zentimetern bestehen aus Kalkstein und erwecken wegen ihrer annähernd perfekten sphärischen Form den Eindruck, als wären sie das Ergebnis eines bewussten Herstellungsprozesses.

Das allein wäre freilich nicht so verblüffend, wenn die Kugeln nicht in einer Fundschicht aufgetaucht wären, die man auf ein Alter von 1,4 Millionen Jahren datiert hatte – eine Ära also, in der der moderne Mensch noch lange nicht existierte und die Levante von seinem Vorfahren Homo erectus besiedelt war. Insbesondere deshalb waren viele Forschende bisher davon ausgegangen, dass die seltsamen Kugeln wahrscheinlich eher bei natürlichen geologischen Vorgänge entstanden sind.

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Dutzende Kugeln aus Kalkstein zeugen von überraschenden handwerklichen Fähigkeiten unserer Vorfahren. Wofür die Kugeln nützlich waren, bleibt allerdings ein Rätsel.
Foto: Leore Grosman/Hebrew University of Jerusalem

Blick ins frühe Pleistozän

Dem widerspricht nun allerdings eine aktuelle Studie, für die ein israelisches Forschungsteam die Artefakte noch einmal eingehend und mit modernsten Analysemethoden unter die Lupe genommen hat. Das Ergebnis stellt vieles infrage, was wir über die Entwicklung unserer entfernten Verwandten und ihre technologischen Fähigkeiten bisher zu wissen glaubten.

Der Ausgrabungsort 'Ubeidiya ist eine archäologische Stätte aus dem frühen Pleistozän, an der einige der ältesten Spuren der Auswanderung von Homo erectus aus Afrika erhalten sind. Die Stätte war 1959 entdeckt und zwischen 1960 und 1974 erstmals ausgegraben worden. In 'Ubeidiya wurden Handbeile und tierische Überreste gefunden, darunter der Oberschenkelknochen eines Flusspferdes und ein sehr großes Hörnerpaar, das zu einer ausgestorbenen Rinderart gehört. Menschliche Fossilien dagegen wurden dort nur sehr wenige freigelegt.

Viele Hypothesen

Ähnliche Steinkugeln wie jene, die Anfang der 1990er-Jahre in 'Ubeidiya entdeckt wurden, haben Archäologinnen und Archäologen auch an afrikanischen Ausgrabungsstätten gefunden. Je nach Fundort wurden sie auf ein Alter von 1,8 Millionen Jahren bis 70.000 Jahren datiert. Aufgrund ihrer regelmäßigen Form spekulierten einige Fachleute schon früher, dass diese Kugeln eine Art Werkzeug oder Waffe darstellen könnten. Als Werkzeug wären sie geeignet, andere Materialien zu bearbeiten oder zu schleifen, wie eine der Hypothesen vorschlägt. Ihre runde Form spreche jedoch auch dafür, dass es sich um Projektilwaffen mit veritabler Durchschlagskraft handelt.

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Die Kugeln wurden eingehend untersucht. Das Ergebnis weist auf einen zielgerichteten Schöpfungsprozess hin.
Illustr.: Hebrew University of Jerusalem

Diese Werkzeug- beziehungsweise Waffenhypothese konnte nun von einem Team um Antoine Muller von der Hebräischen Universität von Jerusalem untermauert werden. Im Zentrum der im Fachjournal "Royal Society Open Science" vorgestellten Studie stand die Frage, ob die Kugeln unbeabsichtigte Nebenprodukte waren oder ganz bewusst hergestellte Artefakte, die für einen bestimmten Zwecke geschaffen wurden. Auf der Suche nach einer Antwort setzte das Team modernste Analysemethoden ein, mit denen es 150 Kalksteinkugeln aus 'Ubeidiya zu Leibe rückte.

Mit Ziel gestaltet

Dabei rekonstruierte die Gruppe anhand hochauflösender 3D-Scans die zeitliche Abfolge, die letztlich zum beinahe perfekten Ball geführt hatte. Die Untersuchung der jeweiligen Schwerpunkte, der Geometrie und des Materialverlustes auf dem Weg zu einer Sphäre enthüllte ein bemerkenswertes Muster: Die Kalksteine von 'Ubeidiya wurden offenbar tatsächlich vorsätzlich durch geschicktes Klopfen mit dem Ziel bearbeitet, sie in eine schöne runde Kugelform zu zwingen. Die Verwandlung der Steine in eine Kugel erforderte außergewöhnliche Kenntnisse und verdeutlicht, dass hier etwas mit einem klaren Ziel vor Augen gestaltet wurde.

Diese Schlussfolgerungen rütteln freilich am Bild, das man sich bisher von den technischen Fähigkeiten von Homo erectus gemacht hatte, schreiben die Wissenschafter. Genau genommen wäre dies der älteste Beweis dafür, dass frühe Hominiden symmetrische Formen aus Stein nicht nur erstrebenswert fanden, sondern auch umsetzen konnten. Bleibt immer noch die Frage, wofür diese Kugeln verwendet wurden. "Leider ist der Zweck dieser Artefakte immer noch unklar. Um ihre Funktion einzugrenzen, wird noch viel Arbeit nötig sein", sagte Muller. Möglicherweise muss dieses Rätsel auch völlig ungelöst bleiben. (Thomas Bergmayr, 7.9.2023)