Bub schaut traurig aus dem Fenster 
"Immer jüngere Kinder, auch schon im Volksschulalter, sprechen über Suizidgedanken und teilweise konkrete Suizidpläne", berichtet eine Expertin.
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Wenn Birgit Satke oder ihre Kolleginnen und Kollegen ans Telefon gehen, hören sie immer öfter Sätze wie "Ich habe schon einmal daran gedacht, nicht mehr leben zu wollen" bis hin zu konkreten Suizidplänen und -absichten. "Im Schnitt führen wir täglich vier Beratungsgespräche zum Thema Suizid", berichtet Satke, Leiterin der Notrufnummer 147 von Rat auf Draht. Heuer waren das bereits über 800 Gespräche, mehr als ein Drittel davon mit 15- bis 18-Jährigen. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen – auch in Österreich. In Zahlen bedeutet das: Etwa 1.100 Menschen sterben jährlich durch Suizid, zwischen 25 und 30 davon in der Altersgruppe der unter 18-Jährigen. Tendenz: stark steigend.

Denn nicht nur bei telefonischen Seelsorgeangeboten beobachten Fachleute einen Negativtrend. Auch die Zahlen aus dem klinischen Bereich zeigen, dass sich die Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen seit 2018 verdreifacht hat. "In Österreich wurde in den vergangenen Jahren an den Kliniken und auch im niedergelassenen Bereich eine deutliche Zunahme an Kindern und Jugendlichen gesehen, die sich mit Suizidgedanken oder nach einem Suizidversuch vorgestellt haben", berichtete Paul Plener, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien, am Freitag bei einer Pressekonferenz der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) im Vorfeld des Welt-Suizid-Präventionstags der WHO am Sonntag.

Während die Zahl der Akutvorstellungen an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Med-Uni Wien im Jahr 2022 mit 1.260 vergleichbar mit der Zahl der Vorstellungen im Jahr 2019 (1.277) war, hat sich die Zahl der Jugendlichen, die sich nach einem Suizidversuch vorstellten, von 67 (2019) auf 200 (2022) gesteigert. Suizidgedanken finden sich bei mehr als der Hälfte (53 Prozent) der Jugendlichen, die sich in eine Akutvorstellung begeben.

Am LKH Süd II in Graz ist die Situation ähnlich. Im Jahr 2018 wurden 103 Kinder und Jugendliche aufgrund einer suizidalen Krise aufgenommen, 2022 waren es 310, berichtete Isabel Böge, Leiterin der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin der Med-Uni Graz.

Video: Jugend und Suizid: "Das Schlimmste ist, zu verdrängen"
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Akute Belastungen und psychische Krisen nehmen zu

Dabei nahmen laut Böge akute Belastungen und psychische Krisen als zugrunde liegende Diagnosen deutlich zu, während die Depression gleichbleibend hoch vorhanden war (siehe Grafik). Deutlich ist auch, dass Suizidalität erst ab einem gewissen Alter eine Rolle zu spielen scheint. Kinder entwickeln erst ab dem Alter von neun bis zehn Jahren ein Todeskonzept, sodass Suizidalität in der Regel selten vor dem elften Lebensjahr zu finden ist.

Grafik zeigt die zugrundeliegenden Diagnosen bei Suizidalität
Suizidalität bei zugrundeliegenden Diagnosen
Akute Belastungen und psychische Krisen führen bei Kindern und Jugendlichen immer häufiger zu suizidalen Gedanken.
ÖGKJP

Während Suizidalität 2019 eher noch bei 13- bis 15-Jährigen im Rahmen von impulsiven Reaktionen auftrat, tritt sie inzwischen mehr auf der Basis von komplexerer Psychopathologie bei Belastungsstörungen, depressiven Verstimmungen und Persönlichkeitsstörungen auf. Und noch eine Entwicklung beobachten Fachleute: Die Wiederaufnahmerate aufgrund wiederkehrender Suizidgedanken nimmt deutlich zu. "Das kann auf der einen Seite positiv gewertet werden, die Jugendlichen kommen und holen sich Hilfe. Andererseits würde es auch die Interpretation zulassen, dass aufgrund des Aufnahmeandrangs im LKH Süd II nur Kriseninterventionen von drei bis fünf Tagen angeboten werden können", so Böge. Für eine nachhaltige Versorgung ist die Warteliste lang.

Anstieg von Suizidalität auch in der ambulanten Krisenintervention

Auch in der ambulanten Krisenintervention wird seit dem Jahr 2019 ein Anstieg der Fälle von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen um 30 Prozent (2021 sogar um 53 Prozent) verzeichnet. "Besonders erschreckend war für mich die Erfahrung, dass immer jüngere Kinder, auch schon im Volksschul- und eines sogar im Kindergartenalter, über Suizidgedanken und teilweise konkrete Suizidpläne gesprochen haben. Sie waren einfach in einer verzweifelten Lage und wollten so nicht weiterleben", sagt Ulrike Altendorfer-Kling, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Generalsekretärin der ÖGKJP.

Altendorfer-Kling, die die Kinder-Jugend-Seelenhilfe bei Pro Mente Salzburg leitet, berichtet von einer Häufung an erfolgreichen Suiziden Jugendlicher im Zeitraum Oktober 2022 bis März 2023 in der Stadt Salzburg. Bei der Kids-Line, einer Telefonseelsorge für Kinder und Jugendliche, gab es mehr als eine Verdreifachung der Chatanfragen und Telefonate seit der Covid-19-Pandemie. "Ein Suizid bringt das gesamte Umfeld ins Wanken, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, alle sind tief betroffen und hilflos. An den Schulen gibt es wenig Wissen und Information über Präventions- und Hilfsangebote", kritisiert Altendorfer-Kling.

Teenager besonders gefährdet

"Das Jugendalter ist jene Lebensphase, in der es häufig zum ersten Auftreten von Suizidgedanken und auch Suizidversuchen kommt. Stattgefundene Suizidversuche stellen einen der Hauptrisikofaktoren für spätere Suizide dar. Das Jugendalter ist daher eine Zeitspanne, die für den Bereich der Suizidprävention besondere Relevanz hat", erklärt Plener. Der Negativtrend mache deutlich, dass die Bemühungen im Rahmen der Suizidprävention in Österreich drastisch und schnell erhöht werden müssten.

Die Expertinnen und Experten der ÖGKJP fordern daher, dass Suizidpräventionsprogramme flächendeckend in Österreich implementiert werden. Zudem sollen Fördergelder in die Adaptierung und Implementierung von internationalen Best-Practice-Modellen zur Nachsorge nach Suizidversuchen an Kliniken zur Verfügung gestellt werden mit dem Ziel, diese an die österreichische Versorgungsrealität zu adaptieren. Wie von der ÖGKJP bereits wiederholt gefordert, müsse es einen kassenfinanzierten Zugang zu kinder- und jugendpsychiatrisch-fachärztlicher, psychotherapeutischer und psychologischer Hilfe für alle von psychischen Erkrankungen betroffenen Minderjährigen geben. Zusätzlich müssten bauliche Maßnahmen zur Sicherung von bekannten Suizid-Hotspots getroffen werden. (Magdalena Pötsch, 8.9.2023)