Präsident Allende mit Militärschutz
Das letzte Foto: Leibwächter beschützen während des Putsches am 11. September 1973 Präsident Allende (im Vordergrund in der Mitte).
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Lange hatte ich vom Bundesheer nichts gehört, bis ich im Frühjahr 1975 eine Vorladung zur sogenannten Gewissenskommission bekam. Diese sollte überprüfen, ob in meinem Fall die Verweigerung des Wehrdiensts überhaupt gerechtfertigt war. Die Sitzung fand erneut im Kolpingsaal Vöcklabruck statt, nur dass ich dieses Mal alleine war. Dem Geruch nach zu schließen, einem Mix aus Schweiß und ungewaschenen Füßen, dürfte aber kurz zuvor ein Stellungstermin stattgefunden haben.

Eisige Stimmung

Am Tisch saßen fünf Männer, drei Uniformierte und zwei Zivilisten. Die Stimmung war eisig und mir gegenüber offen feindselig. An einen der Uniformierten konnte ich mich erinnern, es war derjenige, der bei der Stellung angekündigt hatte, dass wir uns wiedersehen würden. Einer der Zivilisten erörterte zu Beginn ein paar Gesetzestexte, die mich offenbar einschüchtern sollten, weil immer wieder von Gefängnisstrafen die Rede war. Ich hatte mir ein Statement vorbereitet, das ich vorlesen wollte, was mir aber nicht gestattet wurde. Da es in der BRD schon solche Gewissenskommissionen gab, wusste ich, dass dort häufig Fangfragen gestellt wurden, wie zum Beispiel: "Wenn Sie mit Ihrer Freundin in einem Wald spazieren gehen und Ihre Freundin wird plötzlich von einem Russen überfallen, greifen Sie dann zur Waffe?"

Die Frage wurde auch mir gestellt, und meine Antwort fiel pragmatisch aus: "Erstens habe ich keine Freundin, und zweitens gehe ich immer unbewaffnet in den Wald." "Aha, ein Obergescheiter. Noch dazu einer mit langen Haaren, das sind mir schon die Richtigen. Rauchst du am Ende auch Haschisch?" Ich war perplex. "Äh, warum wollen Sie das wissen?" "Weil die Wehrdienstverweigerer meistens auch Haschischraucher sind. Und eines sage ich dir: Wenn du von der Polizei schon einmal beim Haschischrauchen erwischt worden bist, dann erfahren wir das." "Da werden Sie nichts finden", antwortete ich trotzig.

Vereintes Volk

Nachdem ich mehrmals erklärt hatte, dass ich den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern würde, öffnete einer der Uniformierten eine Mappe und holte mit einer triumphierenden Geste einige Exemplare der Schülerzeitung PLOP hervor. Seit vier Jahren war ich Redakteur dieser Zeitschrift, in der ich dutzende Artikel veröffentlicht hatte. Auf einem der Exemplare stand auf dem Cover in großen Lettern: EL PUEBLO UNIDO JAMAS CERA VENCIDO. (Das vereinte Volk kann nie besiegt werden.) Es war der Leitspruch der internationalen Solidaritätsbewegung mit dem chilenischen Volk nach dem blutigen Putsch gegen die Regierung Salvador Allende am 11. September 1973.

Als ich am Morgen des 12. September 1973 in den Radionachrichten von diesem Putsch erfuhr, brach für mich eine Welt zusammen. Ich war Mitglied der Kommunistischen Partei geworden, weil ich an so etwas wie Gerechtigkeit glaubte. Diesen Glauben hatte ich von meiner Zeit in der katholischen Kirche übernommen. Aber was in Chile gerade passierte, war das genaue Gegenteil von Gerechtigkeit. Es war ein himmelschreiendes Unrecht, und ich war von den Vorgängen in Chile derart schockiert, dass ich nicht verstehen konnte, wie die Welt einfach zusehen konnte, wie eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und tausende Menschen gefoltert, verschleppt und ermordet wurden.

Kaum Sanktionen

Das Estadio Chile hatten die Putschisten in ein Gefängnis verwandelt, in dem auch der berühmte Sänger Victor Jara inhaftiert war. Als er von Soldaten erkannt wurde, brachen sie ihm die Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte. Trotzdem erhob er noch einmal seine Stimme und sang das Lied Venceremos – "Wir werden siegen". Anschließend wurde er zusammengeschlagen und mit 44 Schüssen aus einem Maschinengewehr getötet. Heute trägt das Estadio Chile seinen Namen: Estadio Victor Jara .

Vom ersten Tag an war ich in der Chile-Solidaritätsbewegung aktiv, und ich dachte mir, dass spätestens jetzt den Menschen die Augen aufgehen müssten über den wahren Charakter des US-Imperialismus, war doch vom ersten Tag an klar, dass hinter dem Putsch nicht nur chilenische Konzerne und Großgrundbesitzer standen, sondern auch Unternehmen wie der US-Mammutkonzern ITT (International Telephone and Telegraph Corporation) und die CIA. Obwohl die Beweise für die Verstrickung von Konzernen und der CIA in den Putsch erdrückend waren, hielten sich die meisten Staaten mit Protesten oder Sanktionen gegen die Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet zurück.

Mir war das alles unerklärlich, weil aus meiner Sicht die Ungerechtigkeit zum Himmel schrie. Kurt Palm

Für mich war das unverständlich, und mit Entsetzen las ich von den Foltermethoden, die von den Soldaten in den Gefängnissen und Konzentrationslagern angewandt wurden: Frauen wurden lebende Ratten in die Genitalien eingeführt; linke Studentinnen und Studenten wurden über dem Meer aus Flugzeugen geworfen, und Oppositionellen wurden mit Zangen die Zehennägel ausgerissen oder sie wurden mit Elektroschocks gequält, während ihr Mund mit Tierkot gefüllt wurde. Wir waren eine kleine Gruppe in Vöcklabruck, die Flugblätter verteilte, um die Menschen über die Vorgänge in Chile aufzuklären, für die sich aber kaum jemand interessierte. Wir hingen in der Nacht Plakate auf, die bereits am nächsten Morgen wieder heruntergerissen waren, wir veranstalteten Informationsabende und wir zeigten Ausstellungen der Chile-Solidaritätsfront, die nur von wenigen Leuten besucht wurden.

Mit meinen Eltern konnte ich auch nicht reden, weil ihnen weder Salvador Allende noch die Unidad Popular etwas sagten. Auch verstanden sie nicht, weshalb ich mich für Menschen einsetzte, die mehr als 10.000 Kilometer entfernt lebten. Sie hatten andere Sorgen, als sich mit dem Putsch in Chile auseinanderzusetzen. Mir war das alles unerklärlich, weil aus meiner Sicht die Ungerechtigkeit zum Himmel schrie und ich davon überzeugt war, dass etwas gegen dieses Unrecht unternommen werden musste. Ich schwänzte die Schule, um in Linz und Wien an Demonstrationen teilzunehmen. Nach einer Demonstration in Linz notierte ich in meinen Kalender ein einziges Wort: "Enttäuschend".

Aber als ich erfuhr, dass in Dortmund bei einer großen Kundgebung die Witwe Salvador Allendes, Hortensia Bussi de Allende, und die berühmte chilenische Gruppe Inti Illimani auftreten würden, borgte ich mir von meiner Schwester das Auto aus und fuhr mit ein paar Freunden nach Dortmund. Gebannt lauschte ich der Rede von Allendes Witwe, und als Inti Illimani das von ihnen komponierte Lied Venceremos anstimmten und tausende mitsangen, hatte ich Tränen der Rührung in den Augen.

Plötzlich Pazifist

Auch in der Schülerzeitung PLOP schrieb ich Artikel über Chile, in denen ich mich unmissverständlich für den bewaffneten Kampf gegen die Pinochet-Diktatur aussprach: "Wir fordern materielle Hilfe für die Opfer der faschistischen Junta und Unterstützung für den bewaffneten Widerstand gegen die Militärdiktatur in Chile." Diesen Artikel vom Jänner 1974 las der Offizier jetzt vor. Als er geendet hatte, fragte er mich: "Vertreten Sie heute immer noch diese Meinung, oder sind Sie plötzlich zum Pazifisten geworden?" Der sarkastische Unterton in seiner Frage war unüberhörbar.

Ich befand mich in einem Dilemma, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass den Mitgliedern der Gewissenskommission die Existenz unserer Schülerzeitung überhaupt bekannt war. Auch hatte ich keine Ahnung, wie sie von diesem Artikel erfahren hatten. Aber scheinbar gab es doch mehr Leute, die PLOP lasen, als wir dachten.

Da die Positionen, die ich in meinen Texten vertrat, eindeutig waren, hätte es wenig Sinn gehabt, um den heißen Brei herumzureden. Also ging ich in die Offensive und versuchte, aus marxistischer Sicht meine Unterstützung für den bewaffneten Kampf in Chile darzulegen. Ich berief mich dabei auch auf die Befreiungstheologie Lateinamerikas und nannte als Beispiele Gustavo Gutiérrez in Peru oder Camilo Torres in Kolumbien, Namen, die den Kommissionsmitgliedern natürlich nichts sagten.

Kurt Palm
Kurt Palm, geboren 1955 in Vöcklabruck, lebt als Autor und Regisseur in Wien. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Der Hai im System", Leykam-Verlag, 2022.
Foto: Heribert Corn

Verschonte Mähne

Als ich mit meinen Ausführungen geendet hatte und die Reaktion der fünf Herren sah, war ich mir sicher, dass mein Antrag auf Wehrdienstverweigerung abgelehnt werden würde. Umso erstaunter war ich, als mir ein halbes Jahr später vom Innenministerium mitgeteilt wurde, dass mein Antrag auf Absolvierung des Zivildienstes angenommen wurde. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Vor allem war ich erleichtert, dass ich mir meine langen Haare nicht schneiden lassen musste. Vor lauter Freude veröffentlichte ich in der Schülerzeitung gleich einen Artikel mit der Überschrift: "Weg mit den Bundesheer-Wandzeitungen in den Schulen."

Als am 11. September 2001 im Radio in den 15-Uhr-Nachrichten zum ersten Mal über den Anschlag auf das World Trade Center in New York berichtet wurde, dachte ich im ersten Augenblick, dass es sich dabei um die späte Rache chilenischer Widerstandskämpfer handeln würde. Sofort fiel mir das Lied El condor pasa ein, und ich hatte das Bild von einem riesigen Adler im Kopf, der einen Angriff auf dieses Symbol des US-amerikanischen Kapitalismus startete. Wie in einem Fantasy-Film.

Oh majestätischer Kondor der Anden.
Nimm mich nach Hause, in die Anden.
Oh Kondor. Ich will zurückkehren in mein geliebtes Land.

Dass am Ende beide Türme des World Trade Center von Flugzeugen angegriffen wurden und der Anschlag einen anderen Hintergrund hatte, erfuhr ich erst später aus den Fernsehnachrichten.