Poor Things Lanthimos Stone
Ramy Youssef und Emma Stone in "Poor Things" von Yorgos Lanthimos - Stone war bei der Preisverleihung in Venedig nicht anwesend.
Searchlight Pictures

Bei der Preisverleihung der 80. Filmfestspiele von Venedig wurde Yorgos Lanthimos "Poor Things" mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Die Searchlight-Pictures-Produktion (Vertrieb Disney) galt durchwegs als favorisierter Konsensfilm. Dabei ist "Poor Things" in keinster Weise gefällig, vielmehr ist er ein kreatives Füllhorn an Frankenstein- und Emanzipationsmotiven, angesiedelt in einem futuristischen Europa um 1900, getragen von der wunderbaren Schauspielerin Emma Stone. "Dieser Film ist vor allem die Hauptfigur Bella Baxter, dieses unglaubliche Wesen, das ohne Emma Stone, ein weiteres unglaubliches Wesen, nicht existieren würde", sagte Yorgos Lanthimos denn auch bei der Preisverleihung.

Lanthimos Lion
Yorgos Lanthimos mit dem Goldenen Löwen in Venedig.
AFP/TIZIANA FABI

"Poor Things" ist außerdem ein äußerst erotischer Film, denn das Geschöpf Bella Baxter geht nicht nur auf Studien-, sondern auch auf eine Entdeckungreise in Sachen eigene Sexualität, die Mark Ruffalo grandios in der Rolle eines schmierigen Anwalts initiiert. "Poor Things" wird Anfang 2024 in die Kinos kommen. Prognostizieren lässt sich bereits jetzt, dass Lanthimos, wie zuletzt mit "The Favourite", für den Olivia Colman als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, ins Oscar-Rennen gehen wird.

"Greek Weird Wave"

Der griechische Regisseur betrat 2009 die Filmfestivallandkarte mit "Dogtooth" in Cannes. Die "Weird Greek Wave" wurde mit seinen Filmen ausgerufen. Ein Kino, das Beziehungen als sinnliche Experimentalanordnungen inszeniert. Ein Labor der Wirklichkeit und der Fantasie bietet auch die Alasdair-Gray-Verfilmung "Poor Things", allerdings mit weit höherem Produktionsbudget. Gleichzeitig hat sich Lanthimos von seinen konzeptionalistischen Anfängen freigespielt, sein strenger Minimalismus ist einem ausufernder Maximalismus gewichen.

Die Jury, deren Vorsitz der US-Regisseur Damien Chazelle ("Babylon") innehatte, vergab die zwei weiteren Hauptpreise an Ryūsuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist" und an Matteo Garrones "Io Capitano". Der Japaner Hamaguchi ist, seitdem er 2015 mit dem Fünfstünder "Happy Hour" auf das Festival nach Locarno eingeladen worden war, ein bekannter Name in cinephilen Kreisen. 2021 hatte er mit "Das Glücksrad" (Großer Preis der Jury auf der Berlinale) und der Haruki-Murakami-Verfilmung "Drive My Car" (Drehbuchpreis in Cannes) seinen großen Durchbruch. "Drive My Car" wurde in Folge auch mit dem Oscar als bester internationaler Film ausgezeichnet.

"Aku wa Sonzai Shinai" ("Evil does not exist") von Ryūsuke Hamaguchi gewann den Großen Preis der Jury.
Biennale

Ein Thriller über das einfache Leben

"Evil Does Not Exist" ließe sich als eine Art Thriller über das einfache Leben bezeichnen. Eine japanische Gemeinde in einer abgeschiedenen Gegend sorgt sich über eine geplante Camping-Einrichtung. Das verschmutze das Wasser und vertreibe das Wild, so die Einwände, die die Dorfbewohner bei einer grandiosen Zusammenkunft mit den Vertretern des Camping-Unternehmens vorbringen. Diese wiederum lassen sich überzeugen, so weit sogar, dass sie von einem ähnlich einfachen Leben träumen. Doch dann bekommt Hamaguchis Film eine brutale Wendung, die bereits von Beginn an in der unheilvollem Musik Eiko Ishibashis (für die sich Hamaguchi bedankte) und fernen Schüssen angedeutet wurde.

Zwei Fluchtgeschichten

Matteo Garrone steht einerseits für ein engagiertes italienisches Kino ("Gomorrha" 2008), andererseits für ein fantasievolles ("Das Märchen der Märchen" 2015). Seine Fluchtgeschichte "Io Capitano" vereint beides. Er begleitet darin zwei senegalesische Jugendliche, die die Reise nach Europa antreten – nicht weil sie notleiden, sondern weil sie Ambitionen haben, die sie in ihrer Heimat nicht verwirklichen können. Die Reise durch Afrika ist gezeichnet durch Ausbeutung, Folter und Not.

Matteo Garrone mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie, Seydou Sarr erhielt den 'Marcello Mastroianni' Award für den besten Newcomer.
Matteo Garrone mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie, Seydou Sarr erhielt den Marcello Mastroianni Award für den besten Newcomer.
EPA/ETTORE FERRARI

Garrone bleibt nah bei seinen Figuren, insbesondere an Seydou Sarr, der auch den Marcello Mastroianni Schauspielpreis als bester Newcomer entgegennahm, und schildert ihre Hoffnungen und Konflikte eindringlich: "Ich klammerte mich an ihre Geschichten, ihre Erfahrungen. Ich habe den Film zusammen mit ihnen gemacht und versucht, ein Vermittler zu sein, meine Vision in den Dienst dieser Geschichte zu stellen" sagte er bei der Preisrede. Ein, bei aller Härte, zugänglicher, um Empathie heischender Film, der ein klares politisches Zeichen setzt.

Etwas enttäuscht wirkte Agniezska Holland, die für "Zielona granica" („Green Border“) den Spezialpreis der Jury entgegennahm. Die Jury hatte die Wahl zwischen Garrone und Holland, um rechtsnationale europäische Regierungen abzustrafen und präferierte den Italiener. Schade, denn Hollands Film ist die vielschichtigere Flüchtlingsgeschichte, die multiperspektivisch die Vorgänge an der polnisch-belarussischen Grenze ins Auge fasst und aufgrund dessen bereits vom polnischen Justizminister verunglimpft wurde. Holland widmete den Preis denn auch der Hilfsbereitschaft der Aktivisten und Aktivistinnen in der Grenzregion.

Agnieszka Holland erhielt für
Agnieszka Holland erhielt für "Green Border" den Spezialpreis der Jury.
EPA/ETTORE FERRARI

"Priscilla" ist beste Hauptdarstellerin

Der 23 Filme zählende Wettbewerb beinhaltete nur fünf Filme von Regisseurinnen, rein statistisch waren sie denn auch bei den Preisvergaben kaum präsent: Sofia Coppola bekam für "Priscilla" indirekt durch den Hauptdarstellerinnenpreises für Cailee Spaeny eine Ehrung. Abzusehen war dagegen, dass Fien Trochs fein beobachteter Film "Holly" über die Ausbeutung eines übernatürlichen Talents ebenso unter den Tisch fallen würde wie Ava DuVernays "Origin", der versucht, kritische Rassismustheorie in Filmdramenform zu gießen, und eher auf ein US-Publikum abzielt.

Cailee Spaeny gewann den Hauptdarstellerinnen-Preis für
Cailee Spaeny gewann den Hauptdarstellerinnenpreis für "Priscilla"
EPA/ETTORE FERRARI

Als bester Schauspieler wurde der US-Schauspieler Peter Sarsgaard ausgezeichnet. Er verkörpert im Abschlussfilm "Memory" von Michel Franco einen an Demenz erkrankten, verliebten Mann. In seiner berührenden Dankesrede betonte er die Wichtigkeit der Hollywood-Streiks und die Gefahren künstlicher Intelligenz: "Schauspieler sind Menschen. Wir können unsere Körper nicht den acht Multimilliardären überlassen, die die Macht haben".

Festival-Personalia

Trotz der leisen Proteste wegen seiner Einladungspolitik und der geringen Frauenquote kann Festivaldirektor Alberto Barbera auf ein ausgewogenes Jubiläumsjahr zurückblicken. Die Filmfestspiele von Venedig bestechen nicht nur durch ihren Flair, auch schafft es der von 1999-2001 und ab 2011 im Amt befindliche Barbera wie kaum ein anderer Kommerz und Kunst, Cinephilie und Unterhaltung in einen Wettbewerb zu bündeln.

Anders als der wackelnde Berlinale-Leiter Carlo Chatrian muss Barbera also nicht befürchten, vorzeitig aus dem Amt zu scheiden. Dennoch könnte der 73-Jährige kommendes Jahr, 2024, seine Letzte Edition feiern. Sein Vertrag läuft aus und angesichts der zeitgleichen Konkurrenz in Nordamerika (Toronto, Telluride) um Weltpremieren aufstrebender, diverserer Regisseure und Regisseurinnen wäre ein Generationswechsel nicht uninteressant.

Schon bald auf der Viennale

Léa Seydoux in Bertrand Bonellos
Léa Seydoux und Guslagie Malanda werden in Bertrand Bonellos "La Bête" ("Beast") bald auf der Viennale zu sehen sein.
Carole Beth

Auch Viennale-Chefin Eva Sangiorgio gastierte am Lido, um mögliche Kandidaten für das im Oktober in Wien stattfindende Filmfest zu sichten. Wie Sangiorgi gegenüber dem ORF sagte, bemühe sie sich um "Green Border" und um Richard Linklaters außer Konkurrenz gezeigten "Hit Man". In der einfallsreichen Komödie übernimmt ein Lehrer die Rolle eines falschen Auftragsmörders, um die Auftraggeber an die Polizei zu übergeben.

Bereits fix im Viennale-Programm ist der große Gewinner "Poor Things". Auch Bertrand Bonellos von der Jury übergangener Film "La Bête" ("Beast"), der wie der kommende Woche im Kino anlaufende "The Beast in the Jungle" von Patric Chiha eine Henry-James-Verfilmung ist, überzeugte Sangiorgio: "Das ist der Film, der mich in dieser Festivalausgabe am meisten überrascht hat, ein mutiges, unkonventionelles Werk", sagte die Viennale-Chefin. (Valerie Dirk, 10.9.2023)