Zwei Armeeleute heben einen Balken an.
Die Armee hilft bei der Suche nach Verschütteten.
AFP/FADEL SENNA

Rabat/Marrakesch – Die Folgen des Erdbebens, das in der Nacht auf Samstag den Süden Marokkos erschüttert hat, sind längst nicht abzusehen. Je weiter die Rettungskräfte vorankommen, umso mehr Tote und Verletzte bergen sie. Mittlerweile berichtet das marokkanische Innenministerium von 2.122 Toten und 2.421 Verletzten. Am Sonntagvormittag ereignete sich zudem ein Nachbeben. Laut der US-Erdbebenwarte USGS hatte es die Stärke 3,9. Laut der marokkanischen Nachrichtenseite "Hespress" wurde dagegen eine Stärke von 4,5 verzeichnet.

Video: Erdbeben in Marokko: "Wir dachten, es sei die Apokalypse"
AFP

Mehr als 300.000 Menschen betroffen

In mehreren Provinzen und Präfekturen stürzten wegen des Hauptbebens Gebäude ein, wurden Infrastrukturen zerstört. So kollabierte in der Stadt Marrakesch das Minarett einer historischen Moschee, Gebäude in der Altstadt sowie Teile der Stadtmauer. Auch die Präfekturen Al Haouz, Ouarzazate, Azilal, Chichaoua und Taroudant im Atlasgebirge und der angrenzenden Wüste und bis hin zu Agadir an der Küste waren von dem verheerenden Erdstoß mit der Stärke 6,8 auf der Richterskala betroffen.

Es handelt sich dabei um rund eine Fünftel des Landes, das mehr oder weniger stark betroffen ist, ein Gebiet so groß wie Österreich. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind mehr als 300.000 Menschen in Marrakesch und umliegenden Gebieten von der Katastrophe betroffen.

Ganze Dörfer in Trümmern

Je weiter die Rettungskräfte Richtung Epizentrum des Bebens unweit von Ighil, 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch, vordringen, um so schlimmer die Bilder. Ganze Dörfer sind nur noch Trümmer. Die Häuser in den Dörfern und Altstädten sind meist aus Adobe – an der Sonne getrockneten Lehmziegeln – gebaut. Dieses Material hielt dem Beben nicht stand.

Ein Haus in Trümmern
Ein zerstörtes Haus in Amizmiz.
IMAGO/Jean-Baptiste Quentin

Die Beerdigungen – nach islamischem Brauch müssen diese spätestens 24 Stunden nach dem Tod stattfinden – reißen nicht ab. Tausende Menschen schliefen auch in größeren Städten wie Marrakesch in der Nacht auf Sonntag aus Angst vor Nachbeben im Freien.

Erst am Sonntag berichteten lokale marokkanische Medien, dass ein kleines Bergdorf in der Provinz Chichaoua nahezu vollständig zerstört wurde, 65 Leichen seien geborgen und ein Massengrab eingerichtet worden, hieß es.

Langsamer Krisenstab

Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis endlich ein Krisenstab auf höchster Ebene einberufen wurde. König Mohamed VI. hielt sich wie so oft in Frankreich auf – ob in einer seiner dortigen Residenzen zum Urlaub oder zur ärztlichen Behandlung in Paris, ist nicht klar. Im Laufe des Samstags kehrte der Monarch zurück.

Die spanische Tageszeitung "El País" berichtet, dass die ersten Ärzte, die in Marrakesch Hilfe leisteten, fast alles Ausländer auf Urlaub waren. Der Rote Halbmond traf auf dem bekannten Platz Jemaa el-Fna in Marrakesch, auf dem die Bewohner der Medina – Altstadt – Zuflucht suchten, erst mehr als drei Stunden nach dem Beben ein. Unzählige Freiwillige aus den größeren Städten brachten auf eigene Faust Hilfsgüter in die abgelegenen Täler des Atlasgebirges, lange bevor staatliche Kräfte eintrafen.

Trümmer liegen am Boden vor einem Haus. Die Stelle ist abgesperrt.
Das Erdbeben richtete auch in Marrakesch Schäden an.
REUTERS/HANNAH MCKAY

Die bei der von Mohamed VI. 18 Stunden nach dem Beben einberufenen Dringlichkeitssitzung im Königspalast von Rabat anwesenden Beamten übermittelten dem Monarchen "die jüngsten Ereignisse in den betroffenen Präfekturen und Provinzen, insbesondere in einigen Städten, die nachts nicht zugänglich waren und in denen die Aktualisierung der Lage und das Eingreifen der Rettungsdienste erst bei Morgengrauen stattfinden konnte", erklärte das Königshaus am Ende des Treffens, wie um die Verzögerung des königlichen Auftritts zu entschuldigen.

Dreitägige Staatstrauer

Mohamed VI. rief eine dreitägige Staatstrauer aus und gab offiziell der Armee den königlichen Befehl auszurücken. Da hatten Armee, Feuerwehren und Zivilschutz längst die Rettungsarbeiten aufgenommen.

Außerdem ordnete Mohamed VI., so das Kommuniqué des Königshauses, die Einberufung eines "interministeriellen Ausschusses" an, der "ein Notprogramm zur Rehabilitation und Rekonstruktion der zerstörten Wohnungen in der betroffenen Zone im kurzmöglichsten Zeitraum" beschließen solle.

Zahlreiche Menschen schlafen im Freien.
Hunderte verbrachten die Nacht im Freien auf dem Jeema-El-Fna-Platz in Marrakesch.
EPA/YOAN VALAT

Die Abwesenheit des Königs verzögerte wohl auch das Gesuch um Hilfe im Ausland. Marokko bat erst am Sonntagmorgen bei Nachbar Spanien offiziell um humanitäre und technische Hilfe. Am Sonntag flog eine Spezialeinheit des spanischen Militärs in das nordafrikanische Land. Der französischen Regierung lag da noch immer kein Gesuch vor, obwohl sie – wie viele andere Länder auch – Unterstützung angeboten hatte. Die internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) gab indessen am Sonntag eine Million Franken (1,05 Millionen Euro) für Hilfsleistungen frei, wie der APA bestätigt wurde. Das Innenministerium erklärte auch am Sonntagabend, dass die Behörden nach einer gründlichen Untersuchung "auf die Unterstützungsangebote der befreundeten Länder Spanien, Katar, Großbritannien und Vereinigte Arabische Emirate reagiert" hätten.

Die Teams hätten am Sonntag Kontakt zu den marokkanischen Kollegen aufgenommen. Die Regierung begrüße alle Solidaritätsinitiativen aus verschiedenen Ländern, hieß es. Der saudi-arabische König Salman und Kronprinz Mohammed bin Salman hätten die Einrichtung einer Luftbrücke für Hilfslieferungen an Marokko angeordnet, berichtete die Nachrichtenagentur SPA am Sonntagabend. Die beiden arabischen Länder unterhalten traditionell freundschaftliche Beziehungen. Laut einem Bericht der Zeitung "Arab News" soll ein saudisches Such- und Rettungsteam die örtlichen Rettungskräfte unterstützen.

Sonderhilfsfonds

Das benachbarte Algerien, mit dem Marokko seit Jahrzehnten im Konflikt um die von Marokko besetzte Westsahara steht, öffnete bereits am Samstag, lange vor dem Erscheinen von Mohamed VI., seinen Luftraum, um den Transit von Hilfsgütern zu erleichtern. Nach einem Erdbeben zählt jede Stunde. Nach 72 Stunden sinkt die Wahrscheinlichkeit, Überlebende aus Erdbebentrümmern zu bergen, rasant gegen null.

Die marokkanische Regierung kündigte unterdessen einen Sonderhilfsfonds für die Bevölkerung an. Damit sollten unter anderem Kosten zur Absicherung beschädigter Häuser gedeckt werden, berichtete die Nachrichtenseite "Hespress" unter Berufung auf einen Regierungssprecher. Zur Höhe des Fonds gab es keine Angaben. Er solle sich aus Geldern öffentlicher Einrichtungen und freiwilligen Beiträgen des Privatsektors zusammensetzen, hieß es.

110 Personen aus Österreich in Marokko

Laut dem österreichischen Außenministerium halten sich (Stand Sonntagvormittag) rund 110 Personen aus Österreich in Marokko auf. "Wir haben glücklicherweise weiterhin keine Infos dazu, dass jemand von ihnen verletzt wurde", sagte eine Sprecherin. Das Außenministerium sei in ständigem Kontakt mit den Österreicherinnen und Österreichern. Man leiste Unterstützung bei der Suche nach Transportmöglichkeiten sowie bei Fragen zur Sicherheit in Marokko.

Das obere Stockwerk ist eingesackt.
Ein teilweise eingestürztes Gebäude in Moulay Brahim.
REUTERS/ABDELHAK BALHAKI

Spendenaufrufe

Das österreichische Rote Kreuz rief am Samstag zu Spenden für die Erdbebenregion auf. "Verletzte und Menschen, die alles verloren haben, brauchen jetzt rasch Hilfe", appellierte Präsident Gerald Schöpfer. Der marokkanische Rote Halbmond unterstütze bereits mit Erster Hilfe, psychosozialer Betreuung und Evakuierungs- und Transportmaßnahmen, hieß es in einer Aussendung.

Der Generalsekretär des österreichischen Roten Kreuzes, Michael Opriesnig, richtete am Sonntag einen Appell an alle Hilfswilligen in Österreich. "Sehr viele Menschen aus Österreich und Deutschland melden sich bei uns und wollen helfen. Allerdings raten wir momentan davon ab, ins betroffene Gebiet zu reisen", sagte er. "Die Gefahr ist zu groß, und Menschen von außen, die untergebracht und verköstigt werden müssen, stellen eine zusätzliche Belastung für Hilfsorganisationen dar." Finanzielle Unterstützungen an professionelle NGOs oder lokale Initiativen würden die Betroffenen in Marokko am besten unterstützen, hieß es.

Ein von Schutt zugeschüttetes Auto in Marrakesch.
Ein verschüttetes Auto in Marrakesch.
IMAGO/Wang Dongzhen

Ärzte ohne Grenzen betonte am Samstag in einer Mitteilung, man sei bereits in Absprache mit den lokalen Behörden, um erste Teams in die Region zu senden. Spendenaufrufe kamen auch von den NGOS Care Österreich und Jugend Eine Welt. "Die humanitäre Situation verschlechtert sich zunehmend. Die Familien benötigen nun am dringendsten Wasser, Nahrung, Hygieneartikel, Gesundheitsversorgung und eine sichere Unterkunft", sagte Care-Geschäftsführerin Andrea Barschdorf-Hager. (Reiner Wandler, APA, red, 10.9.2023)