Tür eines Verhandlungssaales, auf deren Klinke ein Schild mit der Aufschrift
Während der Aussage eines Vergewaltigungsopfers wird das Publikum vom Schöffensenat vor die Saaltür gebeten.
moe

Wien – Als Angeklagter hat man vor Gericht viele Optionen. Man kann die Wahrheit sagen oder schweigen, darf aber auch lügen, wenn man meint, damit durchzukommen. Firas A. entscheidet sich vor dem Schöffensenat unter Vorsitz von Petra Poschalko offen hörbar für Letzteres. Der 24-Jährige bekennt sich zum Vorwurf von Staatsanwältin Julia Kalmar, er habe in den frühen Morgenstunden des 18. März in Wien-Brigittenau eine Frau auf der Straße vergewaltigt, zunächst nur "zum Teil schuldig". Und selbst das eigentlich nicht, wie sich im Laufe seiner Einvernahme herausstellt – der Tunesier schildert nämlich, es habe sich um einen einvernehmlichen sexuellen Kontakt gehandelt.

Der unbescholtene Arbeitslose, der sich zum zweiten Mal ohne entsprechende rechtliche Grundlage in Österreich aufhält, war am Freitag, den 17. März, in Feierlaune, sagt er. Er trank drei Dosen Bier, gegen Mitternacht besuchte er das U4 in Wien-Meidling. "Ich bin ja fortgegangen, um eine Frau kennenzulernen", erklärt er der Vorsitzenden. Er habe eine "gute Zeit" gehabt, lässt er übersetzen, habe getanzt, Leute kennengelernt, noch einige Flaschen Heineken getrunken.

Gegen vier Uhr sei er gegangen, beim Ausgang habe ihn eine Frau angelächelt. "Das hat mich gefreut, also habe ich 'Hallo' gesagt", behauptet der Angeklagte. "Ich habe sie gefragt, ob sie allein lebt und ob wir bei ihr weiterfeiern", erzählt er. Man sei gemeinsam zur U-Bahn gegangen, im Waggon habe man sich geküsst. "Bei der Spittelau hat sie dann gesagt, dass es genug sei, ich habe 'Ciao' gesagt. Dann sind wir zur U6 gegangen, aber in getrennte Waggons eingestiegen."

Biss in die Unterlippe

Da das Opfer unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt wird, lässt sich nur aus dem Plädoyer von Staatsanwältin Kalmar erahnen, was wirklich geschehen ist. Zwar habe die schwer alkoholbeeinträchtigte Frau in der Untergrundbahn den Angeklagten zunächst tatsächlich einvernehmlich geküsst. Dann wollte sie aber nicht mehr, sagte "Nein", biss ihn sogar in die Unterlippe und entfernte sich schließlich.

A. sei ihr nachgegangen, in ihrer Angst habe sie sich in der Station Spittelau an ein Pärchen um Hilfe gewandt. Das wartete mit ihr, bis der Angeklagte scheinbar verschwunden war, und bot der jungen Frau sogar an, sie zu ihrer Wohnung zu begleiten. Sie lehnte ab, da der 24-Jährige nicht mehr zu sehen war, tauschte aber noch Handynummern mit den Passanten aus. Wie man aus den Aufnahmen der Überwachungskameras weiß, hatte sich der Angeklagte aber versteckt und durch Ausziehen der Jacke zu tarnen versucht, als er einen Waggon hinter dem Opfer in die U6 einstieg.

Zurück zu A.s Geschichte. "Bei der Station Jägerstraße habe ich dann den Fehler gemacht, dass ich wie sie auch ausgestiegen bin, da ich Telefonnummern austauschen wollte." Als er die Frau eingeholt hatte, habe sie etwas ins Handy getippt, er habe sie angesprochen. "In welcher Sprache eigentlich?", interessiert die Vorsitzende. "In schlechtem Englisch", lautet die Antwort. Er habe aber auch verstanden, dass die Frau zu ihm "Nein" gesagt hat. "Was heißt denn 'Nein'?", will Poschalko wissen. "Sie hat gemeint, dass sie nicht mit mir sprechen will."

Wechselnde Aussagen

Was, seiner Darstellung nach, aber kein Problem gewesen sei: Man habe sich neuerlich geküsst, er habe im Stehen ihre und seine Hosen geöffnet und sie im Intimbereich berührt. Damit erklärt er das Genmaterial auf seinen Fingern. "Haben Sie sie auch mit Ihrem Penis berührt?", fragt die Vorsitzende nach. "Nein", lautet wie aus der Pistole geschossen seine Antwort. Auf Nachfrage, wieso die DNA der Frau auch an seinem Geschlechtsteil gefunden wurde, mag er nicht mehr ausschließen, dass es doch einen Kontakt gegeben habe. Bei der Polizei hatte er zunächst nur von einvernehmlichen Küssen gesprochen und einer Panikattacke, die die Frau plötzlich erlitten habe.

Plötzlich sei die Frau aber einfach umgekippt. "Als sie zu Boden fiel, war ich schockiert, ich habe auch nicht mehr an Sex gedacht", behauptet der Angeklagte. "Ich habe mir Sorgen gemacht, mich neben sie gekniet und gefragt 'Are you ok, are you okay?'", stellt sich A. als hilfsbereiter Gentleman dar. Warum dann ein anderes zufälligerweise vorbeikommendes Pärchen die Hilferufe der Frau wahrgenommen habe und sah, dass er die halbnackte Frau mit heruntergelassenen Hosen auf dem Boden fixierte? "Die Passanten haben ein falsches Bild gehabt", beharrt der 24-Jährige auf seiner Version. "Mhm", quittiert Poschalko das. Warum er flüchtete, als die Zeugen die Polizei alarmierten, bleibt unbeantwortet.

Die Staatsanwältin schildert auch diesen Teil ganz anders. Das Opfer sei ausgestiegen und auf dem Heimweg gewesen, habe dem Pärchen aus der Spittelau gerade eine Nachricht geschrieben, dass sie gut nach Hause gekommen sei, als der Angeklagte sie plötzlich an den Schultern packte und gegen ihren Willen küsste. Dann habe er sie gegen den Zaun eines Fußballkäfigs gedrängt, wo sie zu Sturz gekommen sei und er sie vergewaltigt habe. Beim Versuch, den Notruf zu wählen, habe er ihr das Handy aus der Hand gerissen und weggeschleudert. Verzweifelt habe sich versucht, davonzurobben, als das zweite Pärchen vorbeikam und sie rettete.

Verletztes Opfer

"Jetzt ist die Frau ja verletzt gewesen", erklärt Poschalko dem Angeklagten und zeigt ihm auf dem Monitor entsprechende Bilder. "Sie hatte unter anderem ein blaues Auge, eine Schwellung an der Wange und Hämatome am Hals. Hatte Sie die schon vorher?" – "Ich weiß es nicht. Ich habe nichts gesehen", versucht es der Angeklagte. Er habe jedenfalls keine Gewalt angewendet. "Sie hat sich die Verletzungen also selbst zugefügt?" – "Das kann sein." – "Mhm, so wird es gewesen sein."

Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger, der bisher wenig gesagt hat, bittet dann um eine kurze Pause, um mit seinem Mandanten sprechen zu können. Bleich kommt der 24-Jährige zurück und nimmt wieder auf dem Anklagestuhl Platz.

"Im Namen meines Mandanten möchte ich eine Erklärung abgeben", verkündet Arbacher-Stöger. "Er bekennt sich umfassend schuldig im Sinne der Anklage, möchte aber keine weitere Stellungnahme abgeben. Er gibt auch zu, dass ihm die beeinträchtigte Frau bereits auf der Treppe aufgefallen ist und er sich dachte, sie sei daher quasi eine leichte Beute, mit der er Sex haben kann."

Durch dieses Tatsachengeständnis muss nur noch das Opfer kurz vernommen werden, dann berät der Senat 15 Minuten über das Urteil. Es werden fünf Jahre unbedingte Haft, die verletzte Frau bekommt die von Privatbeteiligtenvertreterin Monika Ohmann geforderten 5.000 Euro zugesprochen. Der Angeklagte habe seine "sexuellen Bedürfnisse rücksichtslos durchgesetzt", begründet die Vorsitzende die Entscheidung, daher sei auch aus generalpräventiven Gründen eine empfindliche Sanktion notwendig. Während A. mit der Entscheidung einverstanden ist, meldet die Staatsanwältin Strafberufung an, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 12.9.2023)