Blickt man auf die vergangene Urlaubssaison zurück, fällt die Bilanz durchwachsen aus. Beliebte Reisedestinationen wie Italien, Kroatien oder Griechenland jubeln einerseits über eine Rekordsaison und beklagen andererseits die Zunahme von Touristinnen und Touristen, die sich komplett danebenbenehmen. Tatsächlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass kaum eine Woche vergangen ist ohne Meldungen über Fehlverhalten seitens Reisender.

Vor einem Bad im Trevi-Brunnen wird von offizieller Seite gewarnt. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass sich Touristinnen und Touristen nicht daran halten.

Ein kleiner Auszug, um das Gedächtnis aufzufrischen: Zwei betrunkene Amerikaner schlichen sich in einen geschlossenen Bereich des Eiffelturms, um hoch über Paris ihren Rausch auszuschlafen. Eine Französin wurde verhaftet, weil sie ein Herz und ihre Initialen in Italiens berühmten schiefen Turm von Pisa geritzt hatte. Ein kanadischer Teenager verunstaltete letzten Monat einen 1.200 Jahre alten japanischen Tempel, kurz nachdem ein Mann aus Bristol seinen und den Namen seiner Begleiterin in das Kolosseum in Rom geritzt hatte und den Behörden erklärte, er wisse nicht, wie alt die Arena sei. Und wer könnte die deutsche Touristin vergessen, die eine Aufführung in einem heiligen Tempel auf Bali stürmte und sich nackt auszog – nachdem sie zuvor in mehreren Hotels vor Ort die Zeche geprellt hatte? Erst Anfang dieser Woche machte die Meldung die Runde, dass australische Touristen ein Bad im Trevi-Brunnen genommen haben. Was die römischen Behörden gar nicht lustig fanden.

Der Tourist als "Ausnahmemensch"

Man fragt sich: Haben diese Individuen, kaum dass sie nicht mehr zu Hause sind, ihre gute Kinderstube vergessen? Unsoziales Verhalten sei nichts Neues, hielt Eike Schmidt, Chef der Uffizien in Florenz, bereits 2022 gegenüber CNN fest: "Ich glaube nicht, dass es dieses Jahr schlimmer ist – ich glaube, wir sind jetzt da, wo wir 2019 aufgehört haben." Dass deutsche Jugendliche heuer die Säulen des berühmten Vasari-Korridors in Florenz, der die Gemäldegalerie Uffizien mit dem Palazzo Pitti verbindet, beschmieren würden, konnte er damals noch nicht ahnen.

Venedig ist quasi zum Synonym für Overtourism geworden.
Venedig ist quasi zum Synonym für Overtourism geworden.
IMAGO/www.viennaslide.com

Es scheint sich zu bewahrheiten, was der Schweizer Tourismusforscher Jost Krippendorf bereits 1984 feststellte, der Tourist als "Ausnahmemensch tut Dinge, die bei ihm zu Hause am Arbeitsplatz oder in der Familie als höchst ungewöhnlich taxiert und mit Sanktionen belegt würden." Daraus lässt sich eine unbequeme Wahrheit ableiten: Seit Menschen reisen, benehmen sie sich daneben.

In einem einschlägigen Artikel der BBC wird ausgeführt, dass einige der berühmtesten von Menschenhand geschaffenen Weltwunder, seien es die Pyramiden oder Pompeji, schon seit Jahrtausenden mit Graffiti verunstaltet werden. In die Wände geritzt von früheren Besuchern. Es sei zudem kein Geheimnis, dass viele der "größten" Reisenden der Welt – wie Christoph Kolumbus und Hernán Cortés – zu den schlimmsten von ihnen gehörten. "Die Briten waren im Urlaub noch nie gute Botschafter unseres Landes", wird der Historiker Jem Duducu im einem Artikel des britischen Reisemagazins "Timeout" zitiert: "Während Mama und Papa hofften, dass ihr kleiner Herzog auf toskanischen Weizenfeldern große Prosa schreiben, die Ausgrabungen in Pompeji bestaunen und die Architektur von Florenz bewundern würde, verspielten sie ihr Vermögen meist in den Bordellen von Venedig", erklärt Duducu.

Es war eine Zeit, in der viele Statuen, Kunstwerke und antike Gegenstände gekauft oder – wenn das nicht möglich war – von den Wänden gerissen und in der Nacht weggeschmuggelt und nach England ins Herrenhaus gebracht wurden. Ja, die Briten (vor allem die privilegierten, männlichen) hätten sich im Urlaub schon immer wie Vollidioten verhalten, resümiert man bei "Timeout". Aber selbstverständlich sind es, wie die Beispiele oben zeigen, nicht nur Briten, die im Urlaub auffällig werden.

"Disneyfizierung" als mögliche Ursache

Eine Studie aus dem Jahr 2021, die den Ursachen für das Fehlverhalten von Touristinnen und Touristen nachging, legt nahe, dass der Grund für das abweichende Verhalten von Reisenden im Ausland darin liegt, dass sie sich von den Einheimischen abgekoppelt fühlen. Weil sie sich mit diesen nicht identifizierten, hätten sie das Gefühl, dass die Wahrscheinlichkeit, für schlechtes Verhalten verurteilt zu werden, geringer sei. Oder, anders gesagt: Was man nicht kennt und schätzt, das respektiert man auch nicht.

Einer der Gründe für diese Abkopplung wird im Phänomen der "Disneyfizierung" zusammengefasst: Die Reiseindustrie vermittelt Touristen das Gefühl, ein Urlaubsort existiere nur für sie. Nikki Padilla Rivera, Mitbegründerin der Global Guide Alliance, erklärt es so: "Dadurch vergisst man leicht, dass dort Menschen leben. In Verbindung mit dem starken Einfluss von Influencern und rosaroten, reiseästhetischen Inhalten, die mit wenig Kontext geteilt werden, kann dies zu einer Ignoranz gegenüber lokalen Empfindlichkeiten führen, die uns für unsere Umgebung blind macht und uns dazu ermutigt, unsere eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen – oft zum Nachteil der lokalen Einwohner." Bei manchem entsteht so offenbar der Eindruck, dass man es nicht mit einem echten Ort mit echten Menschen zu tun habe.

In der Tourismusgemeinde Hallstatt (Bezirk Gmunden) werden Überlegungen gewälzt, sich mit einem Sichtschutz gegen allzu fotografierfreudige Touristen und Selfie-Jäger zu wappnen. Versuchsweise wurde ein provisorischer Holzzaun aufgestellt, der die schöne Aussicht teilweise verstellt.
In der Tourismusgemeinde Hallstatt (Bezirk Gmunden) werden Überlegungen gewälzt, sich mit einem Sichtschutz gegen allzu fotografierfreudige Touristen und Selfie-Jäger zu wappnen. Versuchsweise wurde ein provisorischer Holzzaun aufgestellt, der die schöne Aussicht teilweise verstellt.
APA/REINHARD HÖRMANDINGER

Man muss sich dabei vor Augen halten, dass, bei aller Empörung über einzelne Individuen ohne Anstand das Problem viel tiefer liegt. Es sind der Massentourismus und dessen systemische Mängel, die seit Jahren für Probleme sorgen – Stichwort Overtourism. Nach den ruhigen Jahren der Pandemie ist dieses Phänomen, wie es Eike Schmidt andeutete, mit voller Wucht zurückgekehrt. Von Overtourism spricht man, erklärte unlängst Oliver Fritz, der am Wifo zur Tourismusökonomie forscht, in einem Gastbeitrag im STANDARD, "wenn die Lebensqualität der Bevölkerung erheblich durch eine hohe Anzahl von Touristinnen und Touristen leidet, aber auch das touristische Erlebnis der Gäste durch eine Überlastung der lokalen Infrastruktur oder einen Verlust an Authentizität einer Destination beeinträchtigt wird".

Aus ökonomischer Sicht sei dieses Phänomen ein typisches Problem sogenannter Allmende-Güter, erläutert der Experte: Das sind Güter, bei denen es einerseits schwierig ist, Menschen vom Konsum auszuschließen – im Tourismus kann man nicht nur das Reiseziel frei wählen, Touristinnen und Touristen bewegen sich an der Destination zumeist im öffentlichen Raum. Andererseits leiden Bevölkerung und Gäste darunter, wenn zu viele Menschen dasselbe Reiseziel oder dieselben Orte innerhalb dieser Destination frequentieren.

Der Trend "Instagram vs Reality" stellt den Hochglanzbildern auf Instagram & Co die ungeschönte Wahrheit gegenüber.
made4tiktok

Die Folgen des Overtourism sind gerade an Hotspots wie Hallstatt, Santorin und Venedig nicht zu übersehen. Mit den steigenden Besucherzahlen nimmt der Lärm zu, die Müllbelastung, Schäden am Ökosystem ... die Infrastrukturen ächzen unter dem Ansturm, Bewohnerinnen und Bewohner suchen das Weite, teils weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Aber auch der gemeine Tourist, die gemeine Touristin (als Teil der Masse und damit des Problems) leidet, weil er oder sie den Besuch nicht genießen kann: Der Blick auf die "Mona Lisa" wird durch die Menschentraube davor stark beeinträchtigt, die Anfahrt zu den Orten der Cinque Terre endet im stundenlangen Stau, in den Gassen von Dubrovnik steigen sich Reisende gegenseitig auf die Füße. Kurz: Nichts ist so, wie es die schönen Fotos auf Instagram und Co versprechen.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Reisende für Selfies am Berliner Holocaust-Mahnmal posieren.

Letzteres ist ebenso Teil des Problems und kann als Erklärung dafür herhalten, warum manche Reisenden ihre Manieren vergessen. Die Konkurrenz um Likes und Views treibt sie zu immer extremeren Aktionen für ihre Social-Media-Feeds. Darunter Alkoholexzesse an heiligen islamischen Stätten oder Tanzeinlagen vor einem Konzentrationslager. Auf der anderen Seite sei auf den Trend "Instagram vs. Reality" hingewiesen, wo Userinnen und User absichtlich das Gedränge und Chaos hinter den Kulissen zeigen, das an touristischen Hotspots herrscht – ein Gegenentwurf zu den perfekt komponierten Bildern und Videos der Influencerinnen und Influencer.

Mehr Achtsamkeit

Über die Gegenmaßnahmen einiger Reiseziele wurde nicht zuletzt im STANDARD berichtet. Tourismus-Hotspots wie Bali und Island fordern Touristen auf, die regionale Kultur und Umwelt zu respektieren. Palau verlangt von seinen Besuchern, dass sie bei ihrer Ankunft eine "Umweltverpflichtung" unterschreiben. Auch andere beliebte Orte regulieren die Touristenmassen zunehmend. In Australien können Besucher den Uluru (Ayers Rock) nicht mehr besteigen, da er als heilige Stätte der Aborigines anerkannt ist. In Amsterdam wurde eine Werbekampagne gestartet, die sich gegen betrunkene Briten richtet. Für "Balconing" auf Mallorca drohen jetzt 36.000 Euro Strafe, Portofino verhängt Strafen gegen herumlungernde Besucher ...

Schließlich könnten die beschämenden Schlagzeilen des vergangenen Sommers auch eine Chance sein, eine Änderung zu bewirken. Nicht zuletzt weil Fehlverhalten, ironischerweise auch durch die sozialen Medien, mehr Öffentlichkeit erfährt. Weil Achtsamkeit und Nachhaltigkeit in vielen Lebensbereichen eine größere Rolle spielen. Daran knüpft der Wunsch an, dass sich Reisende zusammenreißen, sich ihrer Verantwortung gegenüber der lokalen Bevölkerung und Umwelt bewusst werden und dass sich auch die Reisebranche an der Nase nimmt und sich gut überlegt, ob sie in Zukunft den eigenen Profit über die Bedürfnisse der Einheimischen und der Natur stellt. Ist nur zu hoffen, dass das kein frommer Wunsch bleibt. (Markus Böhm, 13.9.2023)