Literatur Judentum Shoa
Blieb ihr Leben lang hellhörig gegenüber Prätention und Unlauterkeit: Ruth Klüger, Autorin, Wissenschafterin und Holocaust-Überlebende.
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Zu den vielen hervorstechenden Eigenschaften, die Ruth Klügers Denken unverwechselbar machen, gehört die Befähigung zur Hellhörigkeit. Die jüdische Autorin des Erinnerungsbuches weiter leben (1992) war akut empfindlich. Ihr Missfallen wurde verlässlich durch Großsprecherei erregt: durch alles Undeutliche und Verschwommene, durch die hohl tönende Phrase – mochte diese auch irgendeinem kanonisierten, vermeintlich unfehlbaren Dichter entschlüpft gewesen sein.

Ruth Klügers jahrzehntelange Arbeit als Literaturwissenschafterin profitierte von der Unbestechlichkeit ihres Gehörs. Die gebürtige Wienerin (1931–2020) dissertierte ausgerechnet über das barocke Epigramm: eine scheinbar kuriose Form der Spruchdichtung. In den Aufsätzen des sorgfältig kompilierten Bandes anders lesen kann man jetzt Klügers Begabung für das lakonische Urteil nochmals überprüfen. Bei allen Beiträgen handelt es sich um Gelegenheitsarbeiten. Im Mittelpunkt stehen jeweils "Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts". Von Nebenwerken wird man, in Ansehung der Wichtigkeit beider Themen, kaum sprechen wollen.

Kennerinnen des Klüger’schen Werks wird es wenig erstaunen, dass sich der Unwille der Germanistin vornehmlich gegen Prahlhänse richtet. Das Verdikt der Anmaßung trifft zu gegebener Zeit solche, die vorgeben, es besonders gut zu meinen: zumal mit den Opfern wie auch den Überlebenden des Holocaust. Nicht nur ventiliert Klüger eingehend die Redeweisen, die das "Dichten über die Shoa" zum Ziel haben. An den Massenmord, der an den Juden verübt wurde, reichen fiktionalisierende Darstellungsformen schwerlich – und nur in den seltensten Fällen überhaupt – heran.

In einem zentralen Aufsatz der Sammlung überprüft Klüger die "Zeugensprache" zweier berühmter Nachkriegsautoren, Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch. Wiederum kommt ihr dabei das feine Gehör ideal zupass.

Jüdische Perspektive

Beide, Vertreter der Tätergeneration, fühlten sich dazu ermächtigt, aus der Perspektive jüdischer Opfer zu erzählen. Heraus kamen, insbesondere im Falle von Anderschs Efraim (1967), verkitschte Wendungen ins unverbindlich Allgemeine. Auf eine Familie in Nachkriegsdeutschland gemünzt, entfährt Efraim folgender Satz: "Ebenso gut wie Frau Heiß und ihre Töchter sich in einer halben Stunde zum Mittagessen setzen, könnten sie auch zu ihrer Ermordung abgeholt werden, wenn es der Zufall so wollte."

Klüger stellt fest: Zufall und Wille sind schlechthin unvereinbar. Hingegen wurden von den Nazis eben nicht alle Menschen gleichermaßen verfolgt; der Antisemitismus bleibt, in einer solchen Apotheose des blinden Fatums, zur Gänze ausgeklammert. Klüger fährt in der ihr eigenen Trockenheit fort: "Nach dem Krieg wurden aus den abscheulichen Juden die bewundernswürdigen, positiv zu bewertenden Söhne der Weisheit und des Leidens." Die Autorin selbst hat die Verschleppung in drei verschiedene Konzentrationslager überlebt. Ihr Humor besaß etwas Staubtrockenes ("Ich komm’ nicht von Auschwitz her, ich stamm’ aus Wien …").

Ruth Klügers Sinnieren über die merkwürdige Vernachlässigung alter Menschen in der Dichtung gipfelt in einer berührenden Hommage an die eigene, hochbetagt verstorbene Mutter: ein Versuch über das Verschwinden zu Lebzeiten.

Plastisches Erzählen

Und so ist es ein einziger Beitrag in einem ansonsten wohlgelungenen Kompendium, der zum Widerspruch reizt: Klügers Interpretation von Wilhelm Raabes gewiss verzwickt angelegtem Roman Der Hungerpastor (1863) nimmt an den karikaturhaften Zügen einer jüdischen Figur ebenso heftig wie beredt Anstoß. Außer Acht lässt Klüger dabei, dass Raabe mit der Darstellung des sich zynisch assimilierenden "Moses Freudenstein" eventuell nichts Pamphletistisches im Sinn hatte.

Vielleicht – so würde eine alternative Lesart es nahelegen – wollte Raabe gerade die Unverfügbarkeit "normaler" Lebensläufe dokumentieren: für einen in Deutschland sein Auskommen suchenden Juden. Der daraufhin prompt nach Paris emigriert. Und sich gegenüber der treuherzigen Biederkeit der Hauptfigur, eben des "Hungerpastors", auf das Vorteilhafteste abhebt.

Als kritische Philologin wird man Ruth Klüger gleichwohl auch posthum nicht entbehren wollen. Ihre brillanten Schlüsse sowie die plastische Erzählweise, etwa mit Blick auf Hofmannsthals/Strauss’ Rosenkavalier, verdienen weit über die Grenzen germanistischer Gelehrsamkeit hinaus tiefe Bewunderung. (Ronald Pohl, 13.9.2023)