Abiy Ahmed war Hoffnungsträger für Frieden in Ostafrika. Mittlerweile kämpft er an drei Fronten im eigenen Land.
AFP/AMANUEL SILESHI

Bricht ein Regierungschef in kurzer Folge drei Bürgerkriege vom Zaun, ist das zumindest ungewöhnlich. Handelt es sich bei dem Regierungschef noch dazu um einen Friedensnobelpreisträger, ist die Zumutung perfekt: Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed stößt derzeit alle vor den Kopf. Vor knapp drei Jahren ließ der mit 47 Jahren jüngste Regierungschef Afrikas seine Truppen in die Tigray-Provinz einmarschieren, nachdem sich deren Politiker seinen Vorstellungen eines unitären, nichtföderalistischen Staates widersetzt hatten. Kurze Zeit später griffen militante Angehörige des Volks der Oromo (dem Abiys Vater angehörte) zu den Waffen: Sie sahen sich von Abiy in ihren Wunsch nach mehr "Selbstbestimmungsrecht" betrogen. Inzwischen hat es der wiedergeborene Christ auch mit der Ethnie seiner Mutter, den Amhara, verdorben: Mehr als zweihundert ihrer Mitglieder kamen in den vergangenen Wochen bei Zusammenstößen mit Regierungstruppen ums Leben, tausende wurden verhaftet. Der Amhara-Provinz droht ein Inferno wie dem benachbarten Tigray: Dort starben innerhalb eines zweijährigen Bürgerkriegs über 600.000 Menschen – der bisher blutigste Konflikt dieses Jahrhunderts.

Die derzeitigen Kämpfe in der Amhara-Provinz brachen neun Monate nach dem Friedensvertrag zwischen der Regierung Addis Abeba und der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) aus – und gleichen jenen bis ins Detail. Drohnen der äthiopischen Luftwaffe greifen Zivilisten an. Mitte August wurden im Städtchen Finote Selam 26 Menschen getötet, die meisten unbewaffnete Jugendliche, darunter auch ein zehnjähriges Kind. Zuvor hatten sich Kämpfer der Amhara-Miliz Fano zahlreicher Städte und Regionen der Provinz bemächtigt, Polizeistationen angegriffen, Häftlinge aus Gefängnissen freigelassen, den Flugplatz des Touristenmagneten Lalibela besetzt und sich erbitterte Kämpfe mit Regierungssoldaten geliefert. Addis Abeba verhängte den Ausnahmezustand und stellte die Provinz unter Militärverwaltung.

Schutzlos gegen Racheaktionen

Ausgelöst wurden die Feindseligkeiten von der Absicht der Regierung, die Truppen der Amhara-Provinz in die nationalen Streitkräfte zu integrieren und die Fano-Miliz aufzulösen – alle drei Parteien hatten im Krieg gegen Tigray noch auf derselben Seite gekämpft. Amharas Bevölkerung befürchtet von der Auflösung ihrer Truppen, Racheakten aus Tigray schutzlos ausgeliefert zu sein. Noch immer halten Amharer den Westteil der Tigray-Provinz besetzt, den beide Ethnien seit Jahrzehnten für sich beanspruchen. In den Verhandlungen zwischen TPLF und Regierung blieb das Thema ausgeklammert: Die Amhara klagen, dass sie an den Gesprächen in Südafrika gar nicht beteiligt waren.

In Tigray herrscht Hunger. Hilfsprogramme wie US Aid liefern Getreide, das verteilt wird – hier vor rund zwei Jahren in Agula.
AP

Statt eingedämmt zu werden, spitzen sich die Spannungen zwischen Äthiopiens Ethnien weiter zu. Amharer, die in der für Omoro vorgesehenen Provinz leben, müssen um ihr Leben bangen. Immer wieder kommt es zu Pogromen, denen meist Dutzende von Menschen zum Opfer fallen. Auf die Idee, den Vielvölkerstaat in ethnisch definierte Provinzen aufzuteilen, war vor drei Jahrzehnten die TPLF gekommen. Auf diese Weise suchte die Minderheit (mit rund sechs Prozent der Bevölkerung) ihre Dominanz über den äthiopischen Staat und die Armee nach dem Prinzip "teile und herrsche" zu sichern. Abiy Ahmed sucht die Föderalisierung seiner Heimat nun rückgängig zu machen: ein Unterfangen mit womöglich guter Absicht, das der ehemalige Offizier allerdings auf denkbar schlechteste Weise, nämlich mit Gewalt, zu verwirklichen sucht.

Mit Gewalt Einigkeit herstellen

Nach seinem Regierungsantritt im April 2018 hatte Abiy Ahmed nur richtige Töne angeschlagen und dafür ein Jahr später den Friedensnobelpreis erhalten. Er schloss Frieden mit dem benachbarten Erzfeind Eritrea, entließ politische Häftlinge, kündigte mehr Demokratie und Marktwirtschaft an und holte zahlreiche Frauen in seine Regierung. Außerdem veröffentlichte er ein Buch, in dem er mit blumigen Worten sein politisches Programm "Mademer" (das Zusammenkommen) vorstellte, und gründete eine neue Partei, die "Wohlstands-Partei": Sie sollte das Land vom ethnischen Föderalismus befreien. Abiy Ahmeds Problem: Der ethnische Nationalismus hatte sich bereits dermaßen eingenistet, dass eine Mehrheit der Bevölkerung – ob unter Oromo, Amhara oder Tigray – einem unitären Staat nicht mehr traut. Als Abiy versuchte, den Zentralstaat mit Waffengewalt herzustellen, nahm die Tragödie ihren Lauf.

Der seit Jahrzehnten in Deutschland lebende politische Analyst und Abkömmling einer äthiopischen Königsfamilie, Asfa-Wossen Asserate, fordert die sofortige Abdankung Abiy Ahmeds: "Was hat uns dieser Josef Goebbels nicht alles versprochen!" Der 74-jährige Prinz wirft dem Premierminister vor, insgeheim nur den Einfluss der väterlichen Ethnie, des Mehrheitsvolks der Oromo, zementieren zu wollen: Nichts anderes verberge sich hinter dessen Gerede vom unitären Staat. Für Asfa-Wossen gibt es nur eine Lösung: den "ethnischen Föderalismus" durch einen demokratischen zu ersetzen und die Provinzgrenzen nicht mehr an den Siedlungsgebieten der verschiedenen Ethnien, sondern an den alten Demarkationen des Kaiserreiches auszurichten. "Wir kommen um die Ethnien nicht herum", meint Asfa-Wossen: "Aber nicht als Trennung, sondern als Bereicherung." (Johannes Dieterich, 13.9.2023)