Olivia Rodrigo
Olivia Rodrigo: Frechdachs mit sensibler Seite.
Universal Music / Corey Whitted

Kann das sein? Es kann. Olivia Rodrigo ist ironisch, selbstironisch sogar. Das ist in dem Alter und dem Fach eher selten, denn Mainstream-Pop ist an sich kein Terrain, auf dem Zweideutigkeiten funktionieren. Für Denkerfurchen auf der Stirn ist Mainstream nicht bekannt, schon gar nicht in den USA. Fragen Sie Robbie Williams.

Und dann ist da jetzt die 20-jährige Olivia Rodrigo. Sie wird gerade als größter Popstar seit dem letzten größten Popstar gehandelt – abseits von Taylor Swift, die in ihrer eigenen Liga spielt.

Rodrigos eben erschienenes zweites Album Guts beginnt mit dem Lied All-American Bitch – und das würde man von jemandem mit ihrer Vergangenheit nicht unbedingt erwarten. Schließlich war die Schule ihres bisherigen Lebens der Disney-Konzern, was für die Psyche junger Menschen nicht immer nur gesund ist. Siehe Britney Spears.

Die in Kalifornien geborene Rodrigo begann bereits mit neun Jahren eine Laufbahn als Schauspielsternchen bei Disney und übernahm mit 16 eine Hauptrolle in der Serie High School Musical: Das Musical: Die Serie. Ja, die heißt wirklich so. Aber das ist, wie 20-Jährige sagen, ancient history.

Olivia Rodrigo - get him back! (Official Video)
OliviaRodrigoVEVO

Mit Rodrigo poppt nun wieder eine Figur in den Charts auf, wie sie in gewissen Abständen und mit variablen Erfolgen wiederkehren, seit aus Liz Phair doch kein ganz großer Star geworden ist.

Phair war in den 1990ern ein junges goschertes Girl, das mit Songs wie Fuck and Run in der gerade in den Mainstream schwappenden Independent-Szene verfing. Spätestens mit der konsenstauglichen Avril Lavigne wurde dieses Modell richtig groß und im Pop-Punk der letzten 15 Jahre immer wieder gesichtet — und oft schnell vergessen.

Klavierschwer und derb

Tatsächlich wurzelt die Musik Rodrigos teilweise in den 1990ern – sieht man von der Klimperklimper-Ballade Vampire ab, die ihr Heil am Ende im Pathos sucht und eher zu den Downern auf Guts zählt. Aber selbst da schimpft sie wie ein Troll auf Social Media, das ist eines ihrer Merkmale, dass sie aus der glattgebügelten H&M-Mode-Punk-Attitüde wenigstens ein paar "fucks" und "motherfuckings" von der Straße einbezieht.

Olivia Rodrigo - ballad of a homeschooled girl (Official Lyric Video)
OliviaRodrigoVEVO

Klavierschwere Lieder wie Logical und The Grudge scheinen eher aus Imagegründen ihren Weg aufs Album gefunden zu haben. Sie zeigen die Sängerin sensibel, das muss sein, das gibt dem Zielpublikum ein paar zusätzliche Stellen, um anzudocken, ihr künstlerischer Wert ist eher bescheiden. Am überzeugendsten ist sie, wenn sie pampig Beschwerde führt. War es auf ihrem Debüt der Song Driver’s License, der gewissermaßen aus dem echten Leben gefischt war, sind es aktuell Titel wie Love Is Embarrassing oder Ballad of a Homeschooled Girl.

Diese zeigen, dass Rodrigos Produzenten sie mit Bands wie den Pixies bekannt gemacht haben. Wobei: Rodrigo bedient sich zwar stellenweise typischer Stop-and-explode-Charakteristika, sie fallen im Vergleich aber handzahm aus. Da fehl der Irrsinn und das Ungesunde. Aber zu viel davon wäre für ein sich selbst erst finden müssendes Publikum schlecht. Lieber ein bisschen über den Ex schimpfen. Das geht immer. Oder übers Bettenmachen verhandeln.

Guts ist ein vieldeutiges four-letter word ohne Zensurgefahr. Es steht für Bauchgefühl ebenso wie für Mut. Bei Rodrigo ist es eine Ansage, die sie nicht ganz einlöst. Ihr Guts ist ein Werk, dem man anmerkt, dass noch nicht ganz klar ist, wohin es mit dem Image gehen soll. Mehr in Richtung freche Chick oder doch in den All-American Mainstream, der mit Vorläufern wie Miley Cyrus schon öfter Zeuge ähnlicher Karrieren geworden ist. Allerdings war altersmäßig kaum jemand so früh dran wie Rodrigo. (Karl Fluch, 16.9.2023)