Der Briefkasten im Erdgeschoß unseres Hauses zählt 18 Schlitze. 18 Schlitze für 18 Wohnungen. Manchmal landet eine Postsendung auf der Oberseite des Postkastens, nämlich dann, wenn der Name auf dem Kuvert nicht mit einem der Hausbewohner ident ist. Unter dem Briefkasten stellen Nachbarn gelegentlich irgendwelche Gegenstände ab. Zur freien Entnahme, wie es so schön heißt. Die Dinge reichen von Gläsern, Tassen, Töpfen und Kinderspielzeug bis hin zu DVDs, CDs und Büchern.

Ich hatte mir vor Jahren einmal die DVD "Camille Claudel" eingesteckt. Den Film wollte ich immer schon sehen. Obwohl ich noch einen DVD-Player samt Fat-Screen-Fernseher besitze, habe ich mir den Streifen nie angeschaut. Ich könnte die DVD also ruhig wieder in die Kiste unten im Treppenhaus legen. Um zum Punkt zu kommen: Neulich lag auf dem Postkasten ein Wiener Telefonbuch für 2023/2024. Ich war mir nicht sicher, ob es auch zur freien Entnahme gedacht war. In dem Fall hätte es eigentlich unter dem Briefkasten liegen sollen. Adressat war keiner zu finden, also nahm ich den Wälzer mit. Das schlechte Gewissen hält sich bis heute in Grenzen.

Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal ein Telefonbuch in Händen hielt. Wozu auch? Telefonnummern werden im Internetz gesucht, oder sie sind längst im Speicher des Smartphones gelandet. Dabei werden in Wien noch immer 155.000 solcher Papierziegel gedruckt. Erstaunlich, oder?

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In Wien werden noch immer 155.000 Telefonbücher gedruckt.
Getty Images / Justin Horrocks

Das Telefonbuch fühlt sich gut an. Es riecht auch gut. Das Internet kann man nicht angreifen. Und riechen schon gar nicht. Ich mag Dinge, die man nicht wirklich braucht, die es aber immer noch gibt und die man berühren kann. Zum Beispiel Sanduhren oder Stempel oder ein altes Küchenradio, dessen Kabel die Katze durchgebissen hat und welches nie mehr repariert wurde. Die Katze hat es überlebt. Ich erfreue mich auf dem Weg in die Redaktion auch jeden Morgen am Anblick einer Telefonzelle, gleich um die Ecke meines Zuhauses. Wie auch immer, ich klemmte das Telefonbuch unter meinen Arm, stieg die 78 Treppen zu meiner Wohnung empor und blätterte es durch. Einfach so.

Rendezvous und Weltrekord

Zu finden sind Postleitzahlen von Abfaltersbach bis Zwölfaxing, Vorwahlen von Afghanistan bis Zypern, ein Haufen Ärzte diversester Fachrichtungen und ein Firmenverzeichnis von Abbruchunternehmen bis zu Firmen, die Zutrittskontrollsysteme anbieten. Daran schließt das eigentliche Telefonbuch an, das es auf 792 Seiten bringt – mit einer ganzen Menge an Leuten.

Das Ding hat das Zeug zu einem Bilderbuch der Fantasie, oder sagen wir, es taugt zur Zündschnur für die Idee eines Romans oder Theaterstücks. Auch ein Anstoß für ein Gedicht ließe sich finden. Schlägt man die Schwarte beliebig auf und tippt mit dem Finger auf eine ebenso beliebige Stelle, taucht dort ein Herr Seidenglanz auf. An anderem Ort eine Frau Stoffregen. Was, wenn sich die beiden, nur so im Kopf gedacht, im Textilviertel auf ein Tête-à-Tête träfen, sich nach einer heißen Liebesnacht vermählten und fortan den Doppelnamen Seidenglanz-Stoffregen annähmen? Was, wenn ein Herr Pfeffer eine Frau Salz zwecks Gründung einer Gewürzhandlung kontaktierte, eine Frau namens Raubitschek gemeinsam mit einer Dame namens Geldmacher einen Bankraub ausübte und sie mit den Taschen voller Geld nach Samoa verschwänden ... Die Vorwahl der Inseln lautet 00 685.

Zugegeben, um einen Klassiker der Weltliteratur zusammenzubringen, müsste man sich vielleicht noch ein wenig länger durch das raschelnde Papier arbeiten, um die Fantasie auf Trab zu bringen, aber auf die Frage "Brauchen wir das Telefonbuch?" taugt die Idee zumindest ein bisschen für ein Ja.

Wofür könnte das gute alte Telefonbuch noch herhalten? Vielleicht zum Pressen von Blümchen, die man auf der Herbstwanderung gepflückt hat? Eventuell taugt es als Instrument, um kreuchendes oder fleuchendes Ungeziefer zu erschlagen? Womöglich könnte man es unter das Bein eines schief stehenden Möbelstücks schieben? Oder als Ding zur körperlichen Ertüchtigung einsetzen. Man erinnere sich an die Wettbewerbe in der einstmals durchaus angesehenen Disziplin des Telefonbuchzerreissens. Ein Mann namens Albert Jamie Walter zerfetzte das 1.551 Seiten zählende Telefonbuch der Stadt München innerhalb von 9,38 Sekunden. Angeblich ist das der Weltrekord. Ich bräuchte bestimmt länger. Aber vielleicht wäre es schade um mein Telefonbuch. Schließlich könnte es ein Retter in der Not sein, falls ich mein Mobiltelefon verliere oder jemand lange Finger macht und sich mein Handy unrechtmäßig verschafft. In dem Falle könnte man im dem Wälzer nach der Telefonnummer von Verwandten oder Bekannten suchen. Womit aber telefonieren, wenn keine Festnetztelefonie zur Verfügung steht? Nun, da müsste wohl die alte Telefonzelle gleich um die Ecke herhalten. (Michael Hausenblas, 17.9.2023)

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