Die "Studien für die Libysche Sibylle" dienten als Vorlage für das Deckenfresko der Sixtina.
bpk / The Metropolitan Museum of Art

Böse Zungen behaupteten, Michelangelo Buonarroti hätte jemanden kaltblütig ermordet, nur um die menschliche Anatomie zu studieren. Dass der Renaissance-Meister tatsächlich so weit gegangen wäre, bleibt ein Gerücht. Gesichert hingehen ist der enorme Einfluss, den er auf seine Zeitgenossen und auch darüber hinaus hatte.

Der Florentiner Künstler setzte zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit seinen Skulpturen und malerischen Werken neue Maßstäbe des idealen Männerakts. Mit seinen Figuren gelang ihm als Erster der Ausgleich zwischen antikem Vorbild und realem Modell – geschaffen nach lebendigen Menschen, versteht sich.

Diese Vorreiterrolle nimmt die Albertina nun zum Anlass für ihre große Herbstausstellung, die sich – bis auf ausgewählte Skulpturen – gänzlich der Zeichnung und der Druckgrafik widmet. Vom Ausstellungstitel Michelangelo und die Folgen darf man sich allerdings nicht in die Irre führen lassen: Das Genie soll nicht wie in der letzten großen Michelangelo-Ausstellung 2011 im Zentrum stehen. Vielmehr möchte man mit ihm als Ausgangspunkt die Entstehung und den Verfall eines von ihm geprägten Kanons nacherzählen. Dieser findet hier mit einem radikalen Bruch im frühen 20. Jahrhundert ein jähes Ende.

Radierung und Kupferstich von Rembrandt
Anti-Michelangelo: Am heftigsten zeigt sich der Kontrast bei Rembrandts ungeschönten, schonungslos realistischen Figuren– hier wirkt niemand heroisch.
Albertina, Wien

Inspirationsquelle und Star

Natürlich ist dennoch Michelangelo der Star der Ausstellung. Allein schon aus dem Grund, weil zusätzlich zu den acht Blättern aus der Albertina-Sammlung auch selten verliehene Zeichnungen internationaler Institutionen gezeigt werden. So sind drei Studienblätter mit Figuren des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle nebeneinander zu betrachten: Der in Wien beheimatete Ignudo (Nackter) trifft auf seinen Kollegen aus dem Pariser Louvre, der zu einem der sitzenden Jünglingsakte zählt. Dazu gesellt sich ein Ehrengast aus dem Metropolitan Museum in New York: Die mit Rötel gezeichneten Studien für die Libysche Sibylle, die neben dem muskulösen Oberkörper auch weitere Details wie einen Fuß preisgeben.

Stark beeinflusst von Michelangelos Schaffen war sein etwas jüngerer Zeitgenosse Raffael, der ebenfalls mit fleischroter Kreide skizzierte. Durch Michelangelo erkannte Raffael die Bedeutung des Studiums menschlicher Muskulatur. Speziell Michelangelos Karton zum niemals realisierten Fresko Schlacht von Cascina, der nur noch in Kopien existiert, war für viele zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine wichtige Inspirationsquelle. Bis auf wenige Leihgaben speist sich die von einem ganzen Team kuratierte Ausstellung aus der Sammlung der Albertina.

Werke von Peter Paul Rubens, Goltzius und Dürer schüttelt das Museum nur so aus dem Ärmel – eine wahre Freude. Durch Gegenüberstellungen kann der Körperwandel im Lauf der Zeit betrachtet werden. Dass vor allem Rubens ein großer Fan des italienischen Meisters war, machen nicht nur Werke wie sein idealtypischer Herkules klar. Auch vier Zeichnungen Michelangelos fanden sich einst in der privaten Sammlung des Barockmalers – und gehören jetzt der Albertina.

Selbstporträt Egon Schiele
Spätestens bei Schieles krank-ausgemergelten Selbstbildnisses weiß man, dass Michelangelos einflussreiche Tage passé sind.
Albertina, Wien

Hexe oder Verführerin

Spannend sind vor allem die Brüche mit dem "michelangelesken" Körperbild, die mit dem Manierismus und seinen Verzerrungen beginnen. Zum Beispiel bei Tintorettos von kleinen Buckeln übersäten Akten, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit "Sacco di noce", also "Sack voll Nüsse" genannt wurden.

Am heftigsten zeigt sich der Kontrast bei Rembrandts ungeschönten, schonungslos realistischen Protagonisten. Er wird in der Albertina gar als "Anti-Michelangelo" betitelt. Statt eines klassischen Adonis setzte er dünne Jünglinge oder auch nackte Frauen mit welligen Oberschenkeln oder hängenden Brüsten in Szene. Heroisch sieht da niemand aus. Adam und Eva geben bei ihm ein verwahrlostes Paar ab, während Dürer noch zwei Schönheiten nahe der Perfektion erschuf.

Der letzte kleine Teil der Ausstellung widmet sich der drängenden Frage, wo eigentlich der weibliche Akt bleibt. Das wirkt zwar etwas bemüht, beleuchtet aber einen blinden Fleck: Michelangelo malte Frauen nur, wenn es wirklich sein musste, und setzte seinen von Männern inspirierten Körpern dann einfach Brüste auf. Im 17. und 18. Jahrhundert nahmen nackte Frauen in der Malerei meist die Rollen der passiven Verführerin, der Venus, der Hexe oder des lasterhaften Wesens ein. Oft liegen sie, bürsten sich die Haare oder wenden sich vom Betrachter ab.

In diesem beispielhaften Ausblick zum Abschluss ändert sich das drastisch: Die weiblichen Akte von Schiele und Klimt konfrontieren explizit mit ihren Blicken. Spätestens bei Schieles krank-ausgemergelten Selbstbildnisses weiß man, dass Michelangelos einflussreiche Tage passé sind. (Katharina Rustler, 15.9.2023)