Schwarz-weißes Bild aus dem Film
In der Musicalverfilmung "Cabaret" (1972) mimte Joel Grey den Conférencier, der im Berliner Kit Kat Klub durch die jüdisch geprägten Shows führt.
imago images/Everett Collection

Jüdische Musiktradition gehört zu Wien wie das Freud-Museum und der Stadttempel. Im September wird das Neujahrsfest Rosch ha-Schana, das an diesem Wochenende stattfindet, im Konzerthaus und im Jüdischen Museum musikalisch zelebriert. Das ganze Jahr über treten Klezmerbands und jiddisch singende Chöre auf. Der Widerstand gegen Antisemitismus schwingt auf Saiten und Stimmbändern mit. Das war auch bei Gerhard Bronner so: Als junger Bursche flüchtete er vor den Nationalsozialisten nach Palästina, nach seiner Rückkehr wurde er in den 1950er-Jahren als Musikkabarettist nicht nur mit dem "G'schupften Ferdl" legendär.

Gerhard Bronner - Erst war der Stalin
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Die jüdische Kabaretttradition war immer zeitkritisch und politisch, sagt der US-amerikanische Ethnomusikologe Philip V. Bohlman von der Universität Chicago zum STANDARD. Er zählt zu den bekanntesten Vertretern seines Fachs, ist Experte für jüdische und europäische Musikkultur und befasst sich etwa mit Migrationsthemen. Mehrfach wurde er für seine Arbeit ausgezeichnet, zuletzt 2022 mit dem hochdotierten Balzan-Preis (siehe Wissen am Ende des Artikels). Ihm geht es nicht nur um reine Theorie: Er tritt als künstlerischer Leiter mit der New Budapest Orpheum Society auf. Benannt ist sie nach einem in Wien gegründeten Ensemble Budapester Musiker, das für jüdische Jargonkomik bekannt war.

Ethnomusikologe Philip V. Bohlman von der University of Chicago ist Balzan-Preisträger 2022 und hier an einem Balkon in Rom zu sehen.
Ethnomusikologe Philip V. Bohlman lebt in Chicago und Berlin.
Internationale Stiftung Balzan

STANDARD: Was fällt alles unter den Begriff der "jüdischen Musik"?

Bohlman: Das ist sehr vielfältig. Es geht nicht nur um Musik aus Israel oder um das, was man bei einer Hochzeit in der Synagoge hört. Aus der Tradition der osteuropäischen Juden gibt es Klezmermusik, die in den 1880er-Jahren gewissermaßen importiert wurde. Sie hat in Wien und Berlin, in Prag und München neue Wurzeln geschlagen. Diese Art von Musik wird wiederum nicht nur von Jüdinnen und Juden gemacht. Und freilich haben auch das moderne Kabarett und seine Musik eine Tradition, die bis heute stark jüdisch geprägt und eng mit Wien verwoben ist.

STANDARD: In welchen Genres ist jüdische Musik besonders einflussreich?

Bohlman: Es mag vielleicht überraschen, dass es enge Verbindungen zum Jazz gibt, vor allem in Europa. Ich denke da an einen der ersten Tonfilme, "Der blaue Engel" aus dem Jahr 1930. Dort gibt es im Kabarett das jüdische Jazzensemble "Weintraub's Syncopators". Es ist das erste Mal, dass wir in einem deutschsprachigen Film Jazz hören. Der erste große Tonfilm in englischer Sprache ist "The Jazz Singer" von 1927. Der jüdische Protagonist, natürlich ein Jazzsänger, ist auch in der Synagoge zu sehen. In Schanghai gab es im Zweiten Weltkrieg eine wichtige, jüdisch geprägte Jazztradition. Zu den bekanntesten US-amerikanischen Jazzmusikern gehört Benny Goodman. Das alles spricht dem Jazz nicht ab, dass er aus der afroamerikanischen Tradition kommt, sondern zeigt, dass es zu Begegnungen kam und kommt.

Les « Weintraubs Syncopators » et Harald Paulsen "Wenn Heut' Nacht die Jazzband spielt !"
Par si, par la

STANDARD: Auch in der Klassik gab es wichtige Vertreter, eben feierte mit "Maestro" ein Spielfilm über den US-amerikanischen Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein Premiere.

Bohlman: Das lässt mich wiederum daran denken, wie unentbehrlich die jüdische Musikgeschichte für Wien bleibt. Bernstein hatte bekanntlich ein besonderes Verhältnis zu den Wiener Philharmonikern, mit denen er häufig auftrat. Weniger bekannt ist die Rolle von Gustav Mahler als Anziehungspunkt in dieser Beziehung. Nach dessen Tod sind Mahlers Sinfonien fast in Vergessenheit geraten – das heißt, bis in die 1950er-Jahre, als Bernstein sie wiederentdeckt und als Standardrepertoire aufgeführt hat. Mahler war im Verständnis seines Verehrers Bernstein auch ein Symbol der jüdischen Moderne in Wien, für deren Untergang und für die Wiederbelebung auf Wiener Konzertbühnen. Das Verhältnis zwischen jüdischen Musiker:innen und Wien bleibt endlos komplex und aktuell.

Mahler Symphony no. 5 - Vienna Philharmonic Orchestra - Leonard Bernstein
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STANDARD: Sie haben auch über die Rolle der Musik beim Entstehen von Deutsch-Amerika geschrieben. Worum ging es da?

Bohlman: Da gibt es einen interessanten Bezug zum Burgenland, aus dieser Region kamen die meisten Menschen aus Österreich nach Chicago. Man sagt sogar, Chicago sei die größte Stadt des Burgenlandes. In der Metropole leben 40.000 Burgenländer:innen, sie oder ihre Vorfahren kamen in drei Wellen: Ende des 19. Jahrhunderts, nach dem Ersten sowie nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute gibt es einen gemischten österreichischen Chor in Chicago, da singt aber auch die eine oder andere Person aus Tirol, Salzburg oder der Steiermark.

STANDARD: Interessanterweise gibt es im Burgenländischen Kittsee sogar einen Ortsteil, der Chikago heißt und der offenbar Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund des schnellen Baus nach Chicago benannt wurde – von einem aus den USA zurückgekehrten Kittseer. Gibt es Erklärungsmuster zu den Migrationswellen aus dem Burgenland?

Bohlman: Das hatte wohl mit Armut und eingeschränkten Möglichkeiten in der Landwirtschaft zu tun, wenn etwa nur der älteste Sohn Land erbte und andere Kinder der riesigen Familien geringe Chancen hatten, sich Haushalte aufzubauen. Amerika versprach einen Neuanfang. Das Burgenland war früher zudem ein Zentrum für jüdische Kultur im ländlichen Mitteleuropa. Heute gibt es dort nur wenige Jüdinnen und Juden.

Ethnomusikologe Philip V. Bohlman und die New Budapest Orpheum Society.
Die New Budapest Orpheum Society performt bei jüdischen Gedenkveranstaltungen, aber auch als Musikkabarett. Das Ensemble singt in acht Sprachen: auf Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch, Tschechisch, Polnisch, Russisch und Französisch.

STANDARD: Wie hängt Ihre Forschung mit Ihrer musikalischen Praxis zusammen?

Bohlman: Für mein Ensemble finde ich Lieder, was auch Teil meiner Forschung ist. Manchmal gibt es nur Texte als Grundlage: Sogenannte Flugblattlieder wurden früher für ein paar Groschen auf der Straße verkauft. Weil sie vom Zensuramt genehmigt werden mussten, findet man in den Archiven der Zensurbehörde Kopien. Manchmal steht dabei, wenn diese Texte zu einer verbreiteten Melodie gesungen wurden. Wir machen die Arrangements, nehmen sie auf und treten auf. Da bin ich der Conférencier, der durch das Programm führt. Das kennt man aus dem Musical und Film "Cabaret", angesetzt in den 1930er-Jahren. Ich bin quasi der Joel Grey. Wobei die Hälfte der Events, bei denen wir spielen, Gedenkveranstaltungen in Synagogen und Kulturzentren sind. Da sind wir sehr ernsthaft, im Gegensatz zu den lustigen Kabarettabenden.

Cabaret (1972) - Willkommen
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STANDARD: In einem Vortrag sagten Sie, Nationalismus sei ein Schlüssel, um europäische Musik zu verstehen. Wie meinen Sie das?

Bohlman: Giuseppe Verdi ist ein gutes Beispiel. Sein "Don Carlos" spielt zwar im Spanien des 16. Jahrhunderts, bezieht sich metaphorisch aber auf die Zeit des Risorgimento, also die Gründung des italienischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert. Ähnliches gilt für Richard Wagner. Joseph Haydn komponierte die Melodie der österreichischen Kaiserhymne, die meiner Einschätzung nach kroatischen Weisen ähnelt, was mit Haydns Arbeitsstätte im Burgenland zusammenpasst. Es gibt eine Aufnahme von Soldaten, die das Lied 1915 in Wien parallel auf Deutsch, Tschechisch, Ungarisch und Polnisch gesungen haben – eine Art Nationalhymne in vier Sprachen. Später wurde die Kaiserhymne zur Nationalhymne Deutschlands. Diese Geschichte setzt sich aus verschiedenen nationalistischen Momenten zusammen, eine solche Perspektive ist aber nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem gefährlichen Nationalismus des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Eine spannende Diskussion dreht sich regelmäßig um das Mitsingen von Nationalhymnen vor Fußball-Länderspielen. Bei der WM der Männer in Katar sang die iranische Mannschaft nicht mit und setzte so ein Zeichen.

STANDARD: Im Zusammenhang mit nationalen Gefühlen spielt also auch die emotionalisierende Wirkung von Musik eine Rolle.

Bohlman: Und es gibt auch positive Aspekte, etwa beim Eurovision Song Contest: Dort können Bands andere Menschen dazu bringen, ihren Anliegen zuzuhören. Die Ukraine singt oft in Landessprache und gewann 2016 mit dem Lied "1944" von Jamala, das sich auf die Annexion der Krim durch Russland bezog. 2022 folgte das Kalush Orchestra mit seinem Sieg dank "Stefania". Auch die Ethnomusikologie hat zum Ziel, Menschen eine Stimme zu geben, die kaum gehört werden, und ihre Musik zu analysieren, um so die Welt zu bereichern.

Kalush Orchestra - Stefania (Official Video Eurovision 2022)
Kalush Orchestra

STANDARD: War das auch Ihre Motivation für Ihre Forschungsgebiete?

Bohlman: Ja, das tue ich etwa als Kabarettperformer mit Liedern, die verloren gegangen sind oder zensiert wurden. Und ich komme zwar selbst nicht aus der jüdischen Tradition, aber die Musikwissenschaft in den USA geht auf sehr viele Menschen zurück, die vor der Schoah geflüchtet sind. Daher müssen – und wollen – wir Musikwissenschafter:innen in Amerika auch Deutsch lernen. In meiner Doktorarbeit habe ich mich dann mit Musik im damaligen Palästina beschäftigt, das ein Land der Vielfalt war – mit jüdischer Musik aus Syrien, dem Irak, Indien, Marokko und Österreich. Wir gehen dorthin, wo Menschen Musik machen, auch unter prekären Bedingungen, etwa in Aufnahmelager für Geflüchtete.

Damascus-Berlin. Nakriz (Oud and Cello) دمشق - برلين. نكريز (عود وتشيللو)
Damascus - Berlin

STANDARD: Was haben Sie dabei gelernt?

Bohlman: Musik ist ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur, sowohl in Chicago, wo es vor allem Einwander:innen aus Mittelamerika gibt, als auch in Berlin, wohin viele aus Syrien flüchteten. Für Migrant:innen ist Musik ein Teil, der wie Sprache und Religion etwas aus der Vergangenheit mitnimmt. Das geht weit über Nostalgie hinaus und kann ein Rettungsanker sein – auch weil es dadurch die Chance gibt, die Zukunft zu gestalten und eine gemeinsame Identität zu bilden, etwa durch die Gründung neuer Musikensembles. In der klassischen deutschen Musikschule wird man nicht lernen, wie man die arabische Oud spielt, aber es entstanden auch Musikschulen für türkische, syrische, irakische Geflüchtete. Das ist sehr wichtig. (INTERVIEW: Julia Sica, 16.9.2023)