Teenager mit langen dunklen Haaren sitzt auf dem Bett, hat den Kopf auf die Hände gestützt, die Haare verdecken das Gesicht
Durch Selbstverletzung wollen Betroffene möglichst schnell negative Emotionen loswerden.
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Schneiden, Ritzen, Kratzen, Verbrennen, Schlagen gegen harte Objekte: Für manche Jugendlichen ist das ein Mittel, um ihre Probleme zu bewältigen – oder zumindest ein Versuch: Sie verletzen sich selbst. Dabei wird eine Sache oft falsch verstanden: Bei selbstverletzendem Verhalten geht es den Betroffenen nicht darum, ihr Leben zu beenden oder Aufmerksamkeit zu bekommen. "Sie versuchen damit, möglichst schnell aus einem negativen emotionalen Zustand herauszukommen", erklärt Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Med-Uni Wien am AKH.

Der Kinder- und Jugendpsychiater beschäftigt sich seit Jahren mit selbstverletzenden und suizidalen Verhaltensweisen bei Jugendlichen. Es ist eine Stressverarbeitungsstrategie, ein Ventil, um zu viel an Emotionen schnell abzubauen, sagt er. "Menschen mit selbstverletzendem Verhalten zeigen aus noch unbekannten Gründen eine veränderte Cortisol-Antwort in sozialen Stresssituationen." Durch die Selbstverletzung schüttet der Körper körpereigene Schmerzmittel aus, die Endorphine, die die Wirkung des in erhöhtem Maße vorhandenen Stresshormons Cortisol reduzieren. Die Anspannung wird dadurch erträglicher.

Umgang mit Emotionen finden

Auffällig ist, dass dieses Verhalten fast nur bei Jugendlichen in der Pubertät zu beobachten ist. In Österreich haben sich etwas mehr als ein Viertel der Jugendlichen bereits einmal selbst verletzt. Mädchen ritzen sich eher, während Burschen eher gegen Gegenstände schlagen. "Die Ersten beginnen mit etwa zwölf oder 13 Jahren, im Schnitt sind die Jugendlichen 15, wenn sie sich selbst verletzen", berichtet Plener. Ins Erwachsenenalter nehmen viele das Verhalten allerdings nicht mit. Wer bis dahin nicht gelernt hat, damit umzugehen, zum Beispiel in einer Therapie, wechselt aber nicht selten zu Alkohol und anderen Drogen, um bestehende Probleme zu lösen.

Allerdings gibt es große Unterschiede darin, wie häufig und intensiv Jugendliche sich selbst verletzen. "Etwa die Hälfte probiert es nur einmal und hört wieder damit auf", sagt Plener. Die andere Hälfte macht es öfter. Bei wiederholten und schwerwiegenden Selbstverletzungen braucht es letztendlich professionelle Hilfe. "Die Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen späteren Suizidversuch mit der Häufigkeit von selbstverletzendem Verhalten steigt, da die Grenze, sich selbst zu schädigen, herabgesetzt wird", so Plener.

Psychotherapie hilft

Die Gründe hinter selbstverletzendem Verhalten sind individuell. In einer österreichischen Studie zeigte sich, dass es sehr häufig mit Depressionen und Angststörungen einhergeht. Hinzu kommen familiäre Probleme wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Trennung der Eltern sowie typische pubertäre Risikofaktoren wie das Erleben von Scham, Versagen oder sozialem Ausschluss im Sinne von Mobbing. "Defizite im Selbstwert sowie in Problem- und Konfliktlösefähigkeit und ein Mangel an Bewältigungsstrategien steigern das Risiko, dass sich Jugendliche nicht auf eine gesunde Art und Weise Problemen und Krisen stellen und diese bewältigen können", sagt Plener.

Viele Betroffene schaffen es über die Zeit selbst, Alternativen zu ihrem selbstverletzenden Verhalten zu finden. Andere brauchen Hilfe, um herauszukommen. "Die Evidenz aus Psychotherapiestudien ist hier sehr gut, oft reichen schon zehn Sitzungen, um das selbstverletzende Verhalten signifikant zu reduzieren", sagt Plener. In der Therapie werden Verhaltensmuster identifiziert und Alternativen im Umgang mit Emotionen erlernt.

"Psychotherapie ist bei Jugendlichen weniger stigmatisiert", sagt Plener. Jugendliche sind hier pragmatischer geworden, wollen sich helfen lassen. Allerdings ist der Zugang zu einem Therapieplatz teuer und mit viel Wartezeit verbunden. Zudem zögern Eltern oft, mit ihren Kindern zur Psychotherapie zu gehen. Plener begrüßt daher den Trend zu Onlineangeboten, wo Betroffene niederschwellig Tipps und Beratung erhalten: "Künftig werden diese Angebote kostenlos sein, denke ich. Der Weg könnte schon in den nächsten ein oder zwei Jahren dort hingehen."

Auf Warnsignale achten

Eltern bleibt das selbstverletzende Verhalten ihres Kindes oft lange Zeit unbemerkt. "Jugendliche, die sich selbst verletzen, sind Experten im Geheimhalten ihres Verhaltens", sagt Plener. Doch es gibt Warnsignale, die Eltern wahrnehmen können: Depressive Stimmung, der Temperatur unangepasste Kleidung, um Wunden zu verdecken, Appetitlosigkeit, wenig Schlaf und sozialer Rückzug können Hinweise auf ein selbstverletzendes Verhalten sein. Sie sind allerdings nicht immer eindeutig zu erkennen, kommen sie doch in Abwandlungen auch bei anderen psychischen Problemen und auch phasenweise im Verlauf der Pubertät vor.

Besteht Verdacht, sollten Eltern nicht darauf hoffen, dass das auffällige Verhalten spontan wieder verschwindet. "Besser ist es in jedem Fall, sein Kind darauf anzusprechen, was man selbst wahrgenommen hat, und die eigene Sorge ohne Panik und neutral zu kommunizieren und zu sagen, wo man Hilfe bekommen kann, wenn man sich den Eltern selbst nicht anvertrauen will", erklärt Plener. Außerdem sollten die Eltern ihre Hilfe bei der Wundversorgung anbieten.

"Ganz wichtig ist, dass Eltern verstehen, dass ein selbstverletzendes Verhalten ihres Kindes erst einmal an sich überhaupt keinen Rückschluss auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern zulässt, und sie nicht generell die Schuld dafür bei sich suchen", sagt Plener. "Häufig sind es auch Probleme aus dem gleichaltrigen Umfeld wie Mobbing, hier braucht es eine individuelle Ursachensuche." Trotzdem sollten Eltern und Kind gemeinsam versuchen, einen Weg zu finden, sei es zuerst eine Beratung oder gegebenenfalls dann eine Kurzzeittherapie, um die Situation zu verbessern. (Andreas Grote, 17.9.2023)