Marion Poschmann.
Die vielfach preisgekrönte Autorin Marion Poschmann.
Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Frau Mathilda hat Probleme. Sie hat Visionen. So sieht sie ihre Schulfreundin Birte auf der Türschwelle oder in der Badewanne, obwohl Birte weit entfernt lebt. Diese Halluzinationstendenzen, spukhafte Fernwirkung, hat Mathilda, die alles in ausbalanciertes Gleichmaß herunterregulierende Gymnasiallehrerin für Mathematik und Musik – beides gewählt, weil beides ihr stets leichtfiel und die Kommunikation nicht über Worte, sondern über Symbole und Zeichen läuft –, von ihrer Mutter geerbt.

Das andere Problem ist: Ihr Mann ist seit drei Tagen abgängig. Nach einem Streit hat er das im Bauhaus-Stil entworfene Haus verlassen. Und seither kein Wort mehr von sich verlauten lassen. Jenen, die nachfragen, gibt Mathilda, die ihren Schulunterricht routiniert heruntersummen lässt, als Auskunft, er sei auf einer Konferenz. Tatsächlich meldet er sich kurz fernmündlich, wobei sich der akustische Hintergrund anhört, als erfülle er eine von Alkohol befeuerte Wette.

Rumoren und Unordnung

Etwas rumorte, etwas war in Unordnung geraten. Genau nach einem Drittel des Romans findet sich diese Formulierung.

Alles rumort in den acht Tagen, von denen die 1969 im Ruhrgebiet geborene, seit 1992 in Berlin lebende, vielfach mit Preisen ausgezeichnete Marion Poschmann in ihrem neuen Roman Chor der Erinnyen erzählt. Unordnung verschiebt Mathildas emotionsneutralisiertes Leben wesentlich, dabei immer noch im wohltemperierten Modus. Im Gegensatz beispielsweise zu den vielen sympathisch-realistischen Figuren des Amerikaners Stewart O’Nan, die sozioökonomisch allesamt herzzerreißend fragil bis prekär armutsumzingelt sind, ist Mathilda pragmatisiert und von bildungsbürgerlichem Vorder- wie Hintergrund.

Mathilda ist eine Figur, die schon 2017 in Poschmanns Roman Die Kieferinseln auftauchte, damals als Konterpart ihres Gespons Gilbert Silvester, seines Zeichens mäßig bezahlter Privatdozent. Nun ist Gilbert komplett absent. Sein Name fällt nicht einmal. Nicht als Mathilda eine Wochenendwanderung mit den Mehr-oder-weniger-Freundinnen Birte und Olivia – Mathilda, deutlich à la mode du jour als Autistin gezeichnet, hat größere Probleme mit persönlicher Kommunikation und dem Entschlüsseln von Gesten – unternimmt, dabei erst von zwei von Testosteron zum Aufschneiden getriebenen Männern aufgegabelt werden, bevor sie dann ein Waldbrand einholt. Nicht wenn Mathilda mit der Mutter spricht und die Eltern besucht. Sie verbringt viel Zeit allein.

Buchhcover
Marion Poschmann, "Chor der Erinnyen". € 24,50 / 192 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023
Suhrkamp

Papiertheater und Schemen

Dialoge zu schreiben, selbst indirekte, vermag Poschmann nicht. Alles ist bei ihr zu lebensfern, zu pathetisch, zu aufgeblasen. Was sie, die einst vor Jahren selbst unterrichtete, hingegen kann, sind satirische feinziselierte Porträtvignetten des Typus Musiklehrer und mit Ketten behangene Kunstunterrichtslehrerin in wallender Leinenschichtkleidung.

Manchmal legt Poschmann ihrer Figur viel zu hochtrabende schwere Lyrismen in den Mund. Dies etwa: "Die Vergänglichkeit kontemplieren, sich in die Feuchtigkeit hineinfinden, verschmelzen mit den zarten Nuancen von Nebeln und Wind." Da merkt man deutlich, dass kaum eine Lyrikerin, kaum ein Poet von Rang wirklich gute Prosa schreiben kann. Günter Grass fing ja als interessanter Dichter an, bevor er Erzähler wurde – seine späten Poeme sind ebenso vernachlässigbar wie das Balladenwerk Martin Walsers oder die Gedichte Siegfried Lenz’ und Peter Härtlings.

Papiertheater

Schon Poschmanns Die Kieferinseln, schmaler als das ebenso entwicklungsresistente Chor der Erinnyen, faserte zum Ende hin merklich aus, der Roman verlor jede Form, Poschmann den Zugriff auf die Figuren, die immer papierener daherkamen.

Chor der Erinnyen ist diesbezüglich noch schmerzhafter. Und ungelenker. Reines Papiertheater. Die Chorgesänge der Erinnyen, der Rache- oder Schutzgöttinnen, in jedem Kapitel regelmäßig auftauchend und es zumeist beendend, klingen von Mal zu Mal mehr nach Parodie und nicht nach auch nur ansatzweise ernstzunehmendem poetischem Sang.

Alles verflirrt interesselos opak in einem Finale, das keines ist und bei dem der Verlag offensichtlich endgültig resignierte. Alles verschwimmt am Ende in diesem flusigen Roman, der alles ist, nur kein "Roman", der nicht einmal absichtlich, wie es der "nouveau roman" oder Virginia Woolf, James Joyce, B. S. Johnson oder David Markson taten, Genrekonventionen ignoriert. Alles und jedes mutiert zum Schema, jeder scheint jeden geträumt zu haben. Am Ende stellt niemand sich die Frage: Wieso?(Alexander Kluy, 15.9.2023)