Lisa Thoma lehrt an der Donau-Uni Krems Social Media: „Auch kuriose Clips können beim Verkauf von Produkten helfen.
Stejksal

Haben Sie sich schon mal durch die Livestreams bei Tiktok geklickt? Man swipt sich durch die verschiedensten "Shows". Sieht Leute, die auf einem Stuhl über einem kleinen Wasserbecken sitzen – und ab einer gewissen Anzahl von Zuschauerinnen und Zuschauern darin versenkt werden. Nächster Swipe: Schlangeneier werden unter Wärmelampen bestrahlt, man kann den Schlangen beim Schlüpfen zusehen. Ein Taxifahrer filmt seine Fahrten quer durch Wien. Und dann gibt’s jede Menge Leute, die Namen von Userinnen und Usern auf Eisstaberl brennen oder einfach auf Papier schreiben. Und Zigtausende schauen ihnen dabei zu …

Wenn Sie ein Boomer sind, finden Sie diese Art von Content vermutlich gehaltlos, skurril und platt. "Für Jüngere sind diese Inhalte aber durchaus kreativ, unterhaltsam, erfrischend", sagt Wolfgang Bogner von der Agentur Content Creation in Linz. Und auch der Psychotherapeut Lukas Wagner meint: "Was wir mit Tiktok erleben, ist die Digitalisierung von Jugendkultur. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren wurden die Teenager mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Logisch, dass sie vermehrt im Internet zu finden sind."

Anarchy in the Web

Wagner ist 88er-Jahrgang und in Wiener Neustadt groß geworden: "Ende der 90er war die Punkszene dort groß. Für Erwachsene waren Punks eine Mischung aus schrecklich und unverständlich. Aber genau diese Abgrenzung brauchen viele Jugendliche. Wären unsere Eltern damals in Jacken mit dem Schriftzug ,Anarchy‘ und mit Dreadlocks herumgelaufen, wäre Punk bestimmt nicht mehr spannend für uns gewesen." Lisa Waloschek von der Social-Media-Agentur Hypehunters sieht den Community-Aspekt ebenfalls als ausschlaggebend für den Erfolg der absurd anmutenden Livestreams via Tiktok: "Vor allem nach der Pandemie streben die Leute nach dem Gemeinschaftsgefühl, auch in den sozialen Netzwerken. Bei einem Livestream wird man Teil einer Community. Als Zuschauer kann man live mit den Creators interagieren, sich mit anderen Personen austauschen."

Es gibt aber noch mehr Erklärungsansätze für den Hype rund um die stundenlangen Live-Taxifahrten oder die Eisstaberl-Künstlerinnen. Lisa Thoma, Universitätsdozentin und selbst auch Influencerin, sagt: "Was bei vielen auch zieht, ist der Echtheitscharakter. Da wird nichts editiert, der Content wirkt deshalb nahbarer und realer. Und es ist trotz allem eine gewisse Spannung da und die Frage: Was passiert, wenn ich jetzt weiterscrolle? In welche Gasse fährt er? Sehe ich da wen, den ich kenne? Oder schlüpft gleich eine Babyschlange?"

Glücksgefühle bei vergeudeter Zeit

Ein weiterer Zugang der Expertin: "Viele dieser Livestreams sind ein Gegenpol zur Dauerüberlastung, der wir alle eigentlich ständig ausgesetzt sind. Da hat es für einige etwas Beruhigendes, wenn man einer Person dabei zusehen kann, wie sie Gurken isst." So eigenartig das auch zunächst klingen mag. Thoma erzählt von einem Freund, der am Computer in Echtzeit einen Lastwagenfahrer verfolgt: "Er sitzt vor dem Bildschirm und fährt virtuell die 13 Stunden von Wien nach Amsterdam mit. Ich habe ihn mal gefragt, warum er nicht den Lkw-Führerschein macht und sich dann als Fahrer bewirbt. Seine Antwort: Wenn man virtuell fährt, ist’s nicht so umständlich, Pinkelpausen zu machen." Und Unfälle am Desktop bleiben ohne Schaden …

Psychotherapeut Wagner widerspricht der Entschleunigungsthese: "Aus neurobiologischer Sicht bewirken Social-Media-Plattformen wie Tiktok genau das Gegenteil. Sie sind so konzipiert, dass beim Schauen der Live­streams und Videos viel Dopamin ausgeschüttet wird. Dieser Nervenbotenstoff ist für unsere Glücksgefühle verantwortlich und diktiert unserem Hirn: ,Oh, das ist spannend, wir wollen mehr davon.‘"

Zwischendurch wird aber durch den Algorithmus immer wieder Content eingespielt, der uns auch nicht gefällt. Wie reagieren wir darauf? "Wir scrollen weiter, in der Hoffnung, dass das nächste Video eines ist, das die Dopamin-Ausschüttung aktiviert und uns ein gutes Gefühl gibt", so Wagner, "Das System funktioniert ähnlich wie die Slotmaschinen im Casino, nur dass man auf Tiktok öfter ­gewinnt, als man verliert." Und schon passiert’s, dass wir mehr Zeit mit der App verbringen als gewollt. Und den Content zum Teil nicht mehr wirklich hinterfragen.

Zeitliche Limits

In seiner Praxis in Graz betreut Wagner hauptsächlich Jugendliche, "bei denen das mit dem Social-Media-Konsum nicht mehr ganz so gut hinhaut". Zu ihm kommen Burschen, die zwischen 16 und 18 Stunden am Tag Computerspiele zocken, und Mädchen mit Essstörungen oder selbstverletzendem Verhalten. Seine Erfahrungen: Je jünger die User und Userinnen, umso größer ist die Gefahr, dass sie von Social Media abhängig werden. Er nutzt die Plattformen kaum: "Außer Twitter, wobei ich dort eigentlich nur mitlese und vielleicht zwei, drei Mal im Jahr auf einen Tweet antworte. Ein bisschen Instagram, ich habe aber noch nie ein Bild gepostet. Aber ich teste die Plattformen regelmäßig alle mal durch, damit ich in der Arbeit mit Jugendlichen, Einrichtungen und Familien gut mitreden kann." Auf seinem Handy sind Twitter und Instagram zeitlich limitiert. Twitter mit 20 Minuten pro Tag, Instagram mit 15 Minuten. "Das ist ein Zeitraum, der für mich vertretbar ist. Am nächsten Tag erinnere ich mich null an irgendwelche Postings, aber daran, dass ich Rad fahren war oder was ich mit meinen Kindern gemacht habe."

Eis gegen Krisen

Damit bildet er eine Ausnahme. Etwa zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung sind täglich in den sozialen Medien unterwegs. Die Faszination für Tiktok bleibt dabei ungebrochen. 2016 ging die App online – und wurde anfangs als "kurzlebige Modeerscheinung" abgetan. Jetzt nutzen weltweit mehr als eine Milliarde Menschen die Plattform monatlich. In Europa sind es 150 Millionen Menschen. Die Entwicklung geht weiter steil nach oben.

Auch die der Livestreams. Waren die Echtzeitschaltungen vor zwei, drei Jahren noch eine Nische für Influencer, sind die Live­streams mittlerweile eine Möglichkeit, neue Fans zu generieren – und eine lukrative Einnahmequelle. Ein paar Creators haben das erkannt. Viele ziehen nach, in der Hoffnung auf virtuelle Geschenke, die sie sich später auszahlen lassen können. Die Follower können zum Beispiel Rosen und Eiswaffeln spenden, die jeweils einen Cent wert sind. Klingt nicht nach viel, aber auch Kleinvieh macht Mist. Je mehr Leute zusehen und je länger man es schafft, die Nutzerinnen und Nutzer im Livestream zu halten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die was springen lassen.

"Alles, was gute Unterhaltung bietet, hat die Chance, erfolgreich zu sein", so Agenturchef Bogner. Und da lassen sich Influencer und Influencerinnen einiges einfallen. Oder auch nicht. "Gewisse Dinge, die wir im Alltag machen, sind für andere oft was Neues. Und allein das zieht oft schon", sagt etwa Social-Media-Profi Thoma. Was auch immer gut ankommt: Emotion. "Wir wollen was fühlen, wenn wir Content konsumieren. Trotzdem nimmt das manchmal schlicht absurde Züge an. Erst unlängst habe ich eine Werbung für einen Zaun gesehen. Da ging’s darum, wie einfach der aufzubauen ist und wie toll sich die Oberfläche anfühlt. Aber wer bitte fasst ganz bewusst einen Zaun an und denkt sich: ,Oh, der greift sich aber super an, den hole ich mir!‘?"

Mehr als Tanzclips

Dennoch ist Tiktok längst mehr als ku­riose Hacks oder Streiche, sagt Wolfgang ­Bogner: "Rezepte, Lifehacks, Nachrichten, ­gesellschaftspolitische Diskussionen, Talks mit Politikern und Politikerinnen – auch das ist Tiktok. Spricht man mit jungen Menschen, so hört man oft, dass Tiktok mittlerweile ein beliebter Info­kanal für sie ist. Viele Creators haben hier bereits ihre Nische gefunden, aber auch für Unternehmen wird es zunehmend wichtiger, sich auf nutzenzentrierte Informationen zu konzentrieren."

Gerade für Business­leute lohnt es sich, sich die Sache mit den Livestreams genauer anzuschauen. Wolaschek: "Live-Shopping ist ein Trend, der aus den USA kommt und sich aktuell in Europa immer stärker verbreitet. Dabei stellen Moderatorinnen per Livestream Produkte und Dienstleistungen vor, und User können diese direkt kaufen und buchen. Wie weit sich das Ganze durchsetzt, ist natürlich auch von den Plattformen Tiktok und Instagram selbst abhängig und davon, wie gut die Live-Kauffunktion in die App integriert wird." Auch Thoma sieht in dieser Neuauflage der Homeshopping-TV-Kanäle viel Potenzial für Unternehmen: "Die Menschen bestellen wesentlich mehr online als noch vor ein paar Jahren. Trotzdem brauchen und wollen wir den Dialog beim Einkauf mancher Produkte. Da kommen Live­streams ins Spiel und schließen diese Lücke."

Und da kann Schlangeneierschlüpf-Content plötzlich wieder sehr relevant sein: "Wenn ich Reptilienfutter verkaufen möchte, kann so eine Echtzeitschaltung mir durchaus dabei helfen, neue Kundinnen und Kunden zu gewinnen." Es bleibt auf Tiktok eben alles eine Ansichtssache. (Katharina Domiter, 15.9.2023)