Martin Selmayr
"Oh mein Gott, 55 Prozent des österreichischen Gases kommen weiterhin aus Russland." Martin Selmayr
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Die diplomatische Bombe rauchte noch – schon waren alle bereits um Schadensbegrenzung bemüht. Martin Selmayr selbst, die EU-Kommission, das Außenministerium in Wien. Der EU-Botschafter hatte nach seinem "Blutgeld"-Sager jedenfalls einiges zu erklären. Am Montag hatte er ein Gespräch in Brüssel mit seinem Arbeitgeber, der EU-Kommission. Anschließend musste er zum Austausch ins Außenministerium. Alle Seiten vereinbarten, die Sache ruhen zu lassen und sie nicht mehr zu kommentieren. "Zu der Sache ist alles gesagt", meinte Selmayr daher sittsam am Mittwoch bei einem Auftritt in Wien. Das freilich ist mit ziemlicher Sicherheit falsch.

Umstrittene Bezeichnung

Soll ein Diplomat Österreichs Zahlungen an Moskau im Gegenzug für Gaslieferungen als "Blutgeld" bezeichnen? Darüber wird gestritten, seitdem Selmayrs Aussagen publik sind. Dabei ist die Antwort auf die Frage abseits von Regeln der diplomatischen Etikette simpel. Österreich hat laut Statistik Austria seit Jahresbeginn 2,2 Milliarden Euro für Gaslieferungen an Moskau bezahlt. Auch wenn Russland den Großteil seiner Waffen selbst herstellt, braucht das Land militärische Importe, etwa Mikrochips. Dafür wird mit Euro und Dollar bezahlt. Außerdem ermöglichen Devisen dem Land, im Ausland Waren zu kaufen, wie chinesische Autos und türkische Maschinen. Die Zahlungen fürs Gas helfen also, den LebensStandard aufrechtzuerhalten. Das hilft Putins Regime. Blutgeld also, wenn man so will.

Die interessante Frage liegt woanders: Hätte es in den vergangenen Monaten eine gute Alternative gegeben zu den Geldüberweisungen nach Moskau? Selmayrs Kritik bezog sich ja darauf, dass Österreich immer noch so viel Gas aus Russland bezieht, sich also seit Kriegsbeginn nicht unabhängig gemacht hat. Unbestritten ist, dass Österreich bei Kriegsausbruch aufgrund jahrzehntelanger Politik völlig von Russlands Lieferungen abhängig war. Aber wurde dann auch der Exit verschlafen? Das ist schon kniffliger. Hier ist die Antwort nur auf den ersten Blick einfach.

Panik vor dem Winter

Österreich bezieht aktuell, laut Zahlen des Klima- und Energieministeriums, 66 Prozent seines Gases aus Russland. Laut dem Brüsseler Thinktank Bruegel stammen seit Jahresbeginn etwa 50 Prozent vom Gas in Österreich aus Russland. Das ist zwar eine Reduktion im Vergleich zur Zeit vor Kriegsbeginn. Damals waren es um die 80 Prozent gewesen. Aber im Vergleich ist die Lage trist: Nur die Slowakei, Mazedonien und Serbien bezogen 2023 mehr Gas aus Russland. Österreich ist gleichauf mit Ungarn. Eine Reihe von Ländern ist russisches Gas losgeworden: Deutschland hat seinen Wert von 55 auf fünf Prozent gesenkt. Tschechien hat vor dem Krieg mehr als 90 Prozent aus Russland bezogen, inzwischen sind es fünf. Beide Staaten beziehen heute Flüssigerdgas LNG. Auch Finnland, das Baltikum und Polen sind fast völlig weg von russischem Gas.

Ist in Österreich somit alles schiefgelaufen? Diese Kritik übersieht zunächst, in welcher schwierigen Lage sich das Land und die Regierung im vergangenen Sommer und Herbst befanden. Damals ging die Angst vor einem Gasmangel im Winter 2022/2023 um. Wifo-Chef Gabriel Felbermayr warnte vor einer Inflation von fast 20 Prozent, sollte nicht genug Gas kommen. Die Gaspreise waren damals schon explodiert. Einfach den Gashahn zuzudrehen hätte die Situation verschärft.

Ausbau der bestehenden Wege

Was hätte die Politik noch tun können? Genug, sagen dazu der frühere OMV-Chef Gerhard Roiss und der ehemalige Chef der Regulierungsbehörde E-Control, Walter Boltz. Österreich habe sich zwar alternative Bezugsquellen gesichert, um selbst im Falle eines Stopps der russischen Lieferungen versorgt zu sein. "Es wurde jedoch keine systematische Aktivität gesetzt, die zu nachweislichem Ausstieg aus russischem Gas führt", sagt Boltz.

Roiss und Boltz – Letzterer berät die Regierung zu Energiefragen – haben in einem Strategiepapier im Frühjahr 2023 Vorschläge dazu vorgelegt, wie die Abhängigkeit von russischem Gas langfristig reduziert werden kann. Davon seien heute "15 bis 20 Prozent umgesetzt", sagt Boltz. Vorgeschlagen haben sie, den Ausbau der Gasinfrastruktur nach Deutschland zu forcieren. So sollte eine bestehende Pipeline, die West-Austria-Gasleitung, erweitert werden. Dadurch hätte mehr Gas aus Norwegen via Deutschland nach Österreich kommen können. Der Ausbau ist bis heute nicht gestartet. Österreich hätte sich auch am Ausbau eines Flüssigerdgasterminals auf der kroatischen Insel Krk finanziell beteiligen sollen, sagt Roiss. Geschah ebenso nicht.

Die OMV muss zahlen

Allerdings sind das, wie die meisten Vorschläge zur Diversifikation, längerfristige Projekte: Sie würden dabei helfen, Österreich in den kommenden Jahren unabhängiger vom russischen Gas zu machen. Für den vergangenen Winter kamen solche Initiativen zu spät.

Freilich gibt es auch Vorschläge, die schneller gegriffen hätten: Ex-OMV-Boss Roiss kritisiert, dass die Einlagerung von Gas zu wenig gesteuert wurde. Was meint er? Die Speicher sind aktuell zu 93 Prozent gefüllt, und zwar zu einem guten Teil mit russischem Gas. Für private Händler gab es keine Verpflichtung, auf nichtrussisches Gas zu setzen. Roiss und Boltz hatten vorgeschlagen, das Einspeichern von Gas aus anderen Quellen zu fördern. Gas, das aus Russland nach Österreich kommt, importiert die OMV. Es ist etwa um fünf bis zehn Prozent billiger als das übrige Gas am Markt. Für Privatunternehmen besteht somit ein Anreiz, russisches Gas zu nehmen. Aber was wäre passiert, wenn Österreich ein Förderprogramm aufgelegt oder untersagt hätte, russisches Gas einzuspeichern? Die OMV hätte dennoch für den Rohstoff bezahlt. Das "Blutgeld" wäre trotzdem nach Moskau geflossen.

Der frühere OMV-Generaldirektor Rainer Seele hat den Liefervertrag mit Gazprom im Jahr 2018 vorzeitig bis 2040 verlängert. Diese lange Vertragsdauer ist einmalig in Europa. Langfristige Lieferverträge sehen vor, dass der Abnehmer die Menge an Gas, die gekauft werden muss, kaum beeinflussen kann: Die OMV muss kaufen, und als privates Unternehmen hat sie jeden Grund dazu. Sie verdient so ihr Geld. Hätten sich keine österreichischen Käufer für den Rohstoff aus Russland gefunden, hätte die OMV es an der Gasbörse, etwa dem Central European Gas Hub, verkauft. Gas, das über die Börse läuft, verliert sein Mascherl, wird anonymisiert. Der Käufer muss sich dann nicht einmal mehr vorhalten lassen, es aus Russland bezogen zu haben. Das Gas nur in Österreich abzudrehen hätte also wenig verändert.

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Gesprengte Pipelines

Wohl hätte Österreich festlegen können, dass die OMV nichts importieren und weiterverkaufen darf. Doch eine solche Vorgehensweise sei "heikel", sagt Ex-E-Control Chef Boltz. "Österreich kann für sich entscheiden, kein Gas mehr aus Russland zu nutzen. Diese Entscheidung für andere in einem Binnenmarkt zu treffen ist schwierig." Ein EU-Einfuhrverbot gibt es schließlich nicht. Viele Staaten beziehen zwar kein Pipelinegas aus Russland. Sie kaufen jedoch weiter verflüssigtes russisches Erdgas. Im Schnitt kommen zehn Prozent der EU-Importe von LNG aus Russland. Mitten in einer Debatte über eine Gasmangellage den Gashahn komplett abzudrehen und strikter zu agieren als die meisten anderen EU-Länder ist politisch keine leichte Sache.

Noch ein Punkt ist beachtenswert. Nicht alle Staaten, die nun besser dastehen, haben sich gleich vom russischen Gas abgewendet. Die Nordseepipelines Nord Stream 1 und 2 wurden in die Luft gesprengt, von wem, ist ungeklärt. Einigen Ländern drehte Russland Gas ab, weil diese sich weigerten, in Rubel zu zahlen. Österreich akzeptierte diese Bedingungen, war aber vielfach abhängiger als jene Länder, die sich weigerten. Das konnte die Koalition 2022 nicht mehr beeinflussen.

Veto aus Ungarn und der Slowakei

Natürlich gibt es auch Ebenen, auf denen man rasch mehr hätte tun können. So blockierte Österreich auf EU-Ebene ein schärferes EU-Vorgehen bei Gas gegenüber Russland. Wobei auch Ungarn und die Slowakei ein Veto einlegten. "Es macht jedoch einen Unterschied, ob zwei oder drei Länder Nein sagen", sagt der Energieexperte Georg Zachmann vom Bruegel-Institut. Die Haltung Wiens auf EU-Ebene ist auch ein Grund, weshalb der Chef des Neos-Lab, Lukas Sustala, Österreich als "geopolitischen Geisterfahrer" bezeichnet, der in Europa weitgehend isoliert dastehe.

Experte Zachmann plädiert nicht für ein Embargo: Dass einige Länder sehr, andere gar nicht vom russischen Gas abhängig sind, sei politisches Gift für die EU. Das eigentliche Versagen sei gewesen, kein europäisches Management der Gaslieferungen errichtet zu haben. Die EU hätte Zoll auf das Gas einheben und die Einnahmen aufteilen können.

Österreich zahlt also Blutgeld. In die verzwickte Situation, aus der es einen raschen Ausweg kaum gab, hat sich das Land schon viel früher manövriert. Langfristig wurde kaum etwas getan, um vom russischen Gas wegzukommen. "Das Prinzip Hoffnung regiert. Die Russen werden schon weiter liefern", sagt Roiss. Die Blutgeld-Debatte ist nicht vorbei. (András Szigetvari, 17.9.2023)