Donaustädter Wiesenfest
Dem Befehl "Alle, alle aufstehen" aus dem Refrain des zweiten Liedes wird fast lückenlos Folge geleistet.
Heribert Corn

Hinter der Self-Storage-Lagerhalle spielt heute die Musi. Und nein, mitten im Wiener Flächenbezirk Donaustadt, wo sich neben sechsspurigen Straßen die Vorstadtsiedlungen aneinanderreihen und an der Shell-Tankstelle junge Männer ihre 5er BMWs waschen, ist eigentlich nicht das natürliche Umfeld für Krachlederne und Schlagermusik. Heute aber schon. Zumindest ein bisschen.

Denn vor mittlerweile zwölf Jahren begannen auch Josefstädter Diplomatentöchter und Meidlinger Einzelhändler ihre Beziehung zu Dirndl und Lederhose zu entdecken. Da fand die erste "Wiener Wiesn" im Prater statt. Und wer nicht schon zum Neustifter Kirtag ging, an dem sich seit vielen Jahrzehnten die Wiener Oberschicht jeden August im artfremden Dresscode trifft, hatte spätestens jetzt eine gute Gelegenheit, auch selbst den Trachtenlook zu shoppen, den mancher sonst nur aus dem Skiurlaub in Kitzbühel kannte.

Stelzen und glasiger Blick

Seither sieht man nicht nur in München, sondern auch in Wien Ende September immer öfter Lederhosenträger mit glasigem Blick aus den U-Bahn-Stationen taumeln. Und seither schossen in und um Wien, Schritt für Schritt, aber doch, die vom großen Münchner Vorbild inspirierten Wiesn-Feste aus dem Boden. Manche größer, manche ziemlich klein. Das Wiesenfest Donaustadt auf dem Opel-Parkplatz in Aspern, das an diesem Wochenende stattfand, gehört zu den kleineren. Ins Leben gerufen wurde es von den Asperner und Esslinger Kaufleuten.

Wer neben dem McDonald's an der Kreuzung den Kreisverkehr überquert, kann die Schlagermusik schon hören. Drinnen im Festzelt wandern die ersten Mass und Stelzen über die Tische, draußen auf dem Vorplatz trifft man sich zu Smalltalk und Zigarette. Bunte Dirndln, Lederhosen mit Wollstutzen, rot und blau karierte Hemden. Manche haben auch T-Shirts mit aufgedrucktem Hirschgeweih oder ein Österreich-Wappen auf den Rücken ihres Trachtenjankers gestickt. Wer nichts davon trägt, fällt auf.

Perlenkette zur Krachledernen

Gerade die anwesende Jugend kombiniert den Trachtenlook auch gerne mit kleinen Codes der Subkultur. Schwarze Vans zur Dirndlschürze, Converse "Chucks" zur Krachledernen. Und auch der androgyne Look der Gen Z, die Geschlechterrollen hinterfragt wie keine Generation zuvor, hat es bis auf die Donaustädter Wiesn geschafft. Niklas ist 22 und trägt zur Lederhose Perlenhalskette und Ohrring in Kreuzform. "Eigentlich wollt ich mir auch noch die Fingernägel lackieren", sagt er. "Aber das hab ich heute nicht mehr geschafft." Niklas ist mit seinem halben Freundeskreis aufs Wiesenfest gekommen. Man kennt einander aus der Schulzeit, Volksschule in Essling, Gymnasium in Groß-Enzersdorf.

Donaustädter Wiesenfest
Bunte Dirndlschürzen sah man viele. Mitunter aber auch zu schwarzen Vans oder eng geschnürten Converse "Chucks".
Heribert Corn

Alle sind in der Gegend um den Opel-Parkplatz aufgewachsen, die einen in Essling, die anderen in Aspern, wo gleich hinter den Wohnhäusern die Felder anfangen. Heute studieren sie alle an der Uni, Jus, Germanistik oder etwas mit guten Jobperspektiven an der TU. Es ist die ambitionierte Donaustädter Jugend. Und doch ist niemand von ihnen aus dem 22. Bezirk weggezogen. "Es ist ja fast der letzte schöne Fleck in Wien", sagt einer aus der Freundesgruppe. "Noch nicht ganz am Land, aber auch nicht mehr wirklich in der Stadt."

Man kennt sich

Mit einem ist die junge Freundesrunde nicht allein: Man kennt sich. Hier auf der Donaustädter Wiesn, wo der große Fluss einen von den Innenstadtbezirklern trennt. "Wenn ich da ins Zelt reinkomm, geht's nur Hallohallohallo", sagt Birgit, Mitte vierzig. Auch sie wohnt in der Donaustadt, immer schon. Und hier, in "Transdanubien", wie manche in der Innenstadt ein bisschen scherzhaft, aber auch ein bisschen abschätzig sagen, will sie auch bleiben. Obwohl es lästig sei, dass im Bezirk so viel gebaut werde. In der nahen Seestadt sowieso, aber auch rundherum.

Gegen die Zuzügler aus den inneren Bezirken habe sie nichts, sagt die Versicherungsangestellte. Gegen den Stil der mehrstöckigen Häuser, die hier allerorts aus dem Boden schießen, aber schon. "Das hat mit Architektur nichts mehr zu tun", sagt Birgit. Eine ihrer Freundinnen nickt zustimmend. Auch sie wohnt in der Donaustadt, genauso wie der Rest der gut zehnköpfigen "Mädelsrunde", mit der Birgit heute ins Bierzelt gekommen ist. Und die Männer? "Die hamma nicht mitgenommen." Aus Prinzip? "Na, mit denen geh ma dann auf die Wiener Wiesn. Aber heut bleiben s' daheim."

"Wo sind die Hände?"

Auf dem Vorplatz wirbt die Elektrohandelskette Köck für Alarmanlagen, Photovoltaik und Wärmepumpen; drinnen im Zelt weiß-blau karierte Tischdecken auf Bierbänken, der Baumeister aus Essling und der Hyundai-Händler aus der Wagramer Straße. An einem kleinen Stand neben dem Eingang gibt es Schaumrollen und Herzen, auf denen "Ich liebe dich" steht. Auf der Bühne begrüßt der Moderator die Ehrengäste – Geschäftsleute und Gastronomen aus der Gegend. "Gebts Vollgas", sagt einer der Wiesn-Wirte zum Schluss ins Mikrofon.

Das lassen sich Meilenstein, die Band des Abends, wenig überraschend nicht zweimal sagen. "Die Hände hoch", ruft der Sänger gleich darauf ins Mikrofon. Gitarrist, Bassist und Schlagzeuger tragen Rocker-Outfit, schwarzes Tank-Top zu tätowierten Oberarmen, Piratentuch am Kopf; der Sänger mit wallendem langem Haar dagegen Lodenjanker und eine Art Tirolerhut. Auf der Krempe stecken Federn und ein Gamsbart, am späteren Abend wird vom Hut auch noch eine bunte Lichterkette blinken.

Donaustädter Wiesenfest
Schon beim ersten Lied des Abends steht der Sänger auf einem Biertisch statt auf der Bühne.
Heribert Corn

"Dir gehört mein Herz die ganze Nacht", heißt es im ersten Bierzelt-Banger, den schon die halbe Halle mitsingt. Es geht um eine "schwarze Natascha", an anderer Stelle auch "süße Natascha" genannt. "Wo sind die Hände?", ruft der Sänger. Die Antwort ist klar: fast alle in der Höhe. Er selbst steht schon nach der ersten Strophe nicht mehr auf der Bühne, sondern auf einem der Biertische. Und auch im Publikum ist die Stimmung schon ohne Aufwärmphase recht angeheizt. Der Befehl "Alle, alle aufstehen, alle, alle aufstehen" aus dem Hit-Refrain der Edlseer wird kurz darauf fast lückenlos befolgt.

Verbote und Empfehlungen

Das Warnschild, das auf Tischen und Bänken zu stehen verbietet, interpretiert das Wiesn-Publikum dagegen schon zu früher Stunde eher als lose Empfehlung. Spätestens beim deutschen Karnevalsklassiker "Viva Colonia", allerspätestens bei "Marmor, Stein und Eisen bricht" wäre jeder Einspruch ohnehin zwecklos. Auch die Sicherheitsleute legen die offizielle Regel heute nicht ganz so streng aus. "Obwohl es schon gefährlich ist", sagt der drahtige, großgewachsene Security-Mann neben der Bar. "Die Biertische sind wackelig, und die Leute …" Er stoppt mitten im Satz und formt mit den Fingern eine Trink-Geste.

Keine fünf Minuten später: ein lauter Tuscher, den man in der Ecke trotz wummernden Zelt-Basses noch deutlich hört. Eine der Bierbänke steht plötzlich nicht mehr, sondern liegt. Und neben ihr: ein leicht korpulenter Mann Mitte 30. Entsetzte Blicke rundherum, auch die Köpfe seiner Freunde drehen sich rasant. Aber: schnelle Entwarnung. Der junge Mann streckt noch vom Boden aus den Daumen nach oben. Nix passiert. Er steht wieder und lacht.

"Soll nix Schlimmeres passieren"

Musikalisch gibt es weiter volkstümliche Partyklassiker am laufenden Band. Auf "Hey Baby" von DJ Ötzi folgt "Skandal im Sperrbezirk". Und natürlich: Andreas Gabaliers "Hulapalu". Stimmungspeaks gibt es außerdem bei "Country Roads", "I am from Austria" und "Fürstenfeld". "Leute, ihr seids guat drauf!", ruft der Sänger, inzwischen schon mit von der Hutkrempe blinkenden Lichtern.

Franz, 62, ist heute eigentlich beruflich da. Zumindest so halb. Das Großhandelsunternehmen, für das er arbeitet, beliefert nämlich nicht nur halb Österreich, sondern auch etliche der Gastronomiebetriebe in der Donaustadt. Auch die meisten jener, die auf der Donaustädter Wiesn das Essen kochen. Er kennt hier aber nicht nur Kunden, sondern auch jede Menge andere Menschen. Denn, siehe da: Auch Franz ist überzeugter Donaustädter.

Donaustädter Wiesenfest
Auf der Donaustädter Wiesn: Schaumrollen und Lebkuchenherzen.
Heribert Corn

Seine Krachlederne hat er trotzdem schon auf diversen Wiesn-Veranstaltungen ausgeführt, inklusive dem originalen Oktoberfest. "Und es soll nix Schlimmeres passieren, als wenn die Frauen ein Dirndl anhaben", sagt er. An der Bindung der Schürze erkenne man schließlich gleich, ob die Dame vergeben sei oder nicht. "Oder sie kennt die Regel halt nicht", witzelt Franz. Was in München vergleichsweise unwahrscheinlich ist, kann in der Donaustadt natürlich passieren.

Die Hasenohren leuchten

So oder so: Anbahnungsversuche verschiedener Intensität lassen sich auch auf der transdanubischen Wiesn mitunter schwer übersehen. Sogar die um die Tische ziehenden Rosenverkäufer haben hier eine bessere Geschäftsgrundlage als in manchem Wiener Innenstadtlokal. Nicht nur, weil sie heute auch bunt leuchtende, auf einen Haarreifen montierte Plüschhasenohren im Programm haben. "Tschuldigung", sagt ein blonder junger Mann Anfang zwanzig, als er dem Verkäufer kurz nachläuft. Er kauft ihm gleich zehn rote Rosen ab.

Musikalisch ändert sich im Zelt zu späterer Stunde ein wenig die Klangfarbe – was dem Mitgröl-Potenzial der Lieder keinen Abbruch tut. "Ein Kompliment" von Sportfreunde Stiller können auch 2023 noch viele auswendig. Danach wird es noch rockiger. Zu "Highway to Hell" spielen ein paar im Festzelt Luftgitarre. Andere lassen ihre Finger gar über aufblasbare E-Gitarren aus Plastik schrammeln. Bei Liquidos Keytar-Überhit "Narcotic" kocht die Stimmung dann, als wäre man auf einer Teenie-Fete in den späten Neunzigern.

"Schöner, jünger, geiler"

Kurz vor Sperrstunde dann: plötzlich schnelle Schritte von draußen ins Zelt. Ist was passiert? Rangelei im Festzelt? Folgenreichere Biertisch-Stürze? Nein, der Sänger hat nur die ersten Takte eines Liedes angestimmt, das er sich – offenbar aus gutem Grund – für ganz zum Schluss aufgehoben hat: "La-La-La-La-La-La-La-Layla. Sie ist schöner, jünger, geiler". Was in "woken Twitter-Bubbles" auf Ablehnung stößt, auf der Münchner Theresienwiese gar in ein Spielverbot mündete, ist hier am Opel-Parkplatz in der Donaustadt der finale Blockbuster. Auf den Bierbänken hält es da schon lange niemanden mehr.

Und was ist jetzt eigentlich besser? Münchner oder Wiener Wiesen? Viele der Gäste können diese Frage nicht beantworten, weil sie noch nie auf dem echten Oktoberfest waren. So auch die junge Freundesgruppe aus Essling und Aspern. Die meisten haben sich den Trachtenlook extra für die Donaustädter Wiesn zugelegt. Und nach München müssen sie eigentlich sowieso nicht zwingend. "Wir bleiben eh hier", sagt Hanna aus der Gruppe. Und damit meint sie nicht nur hier in Wien, sondern auch: hier in Aspern, hier in Essling. Oder, wie sie es nennt: "Auf der guten Seite von der Donau." (Martin Tschiderer, 18.9.2023)