
Es wird den Menschen in Stuttgart kein Trost sein. Doch zu Zusammenstößen zwischen Eritreern verschiedener politischer Ausrichtung wie am Samstag in der südwestdeutschen Metropole kam es in jüngster Zeit in vielen Städten der Welt. Außer in der hessischen Stadt Gießen auch in Schwedens Hauptstadt Stockholm und im kanadischen Toronto. In Tel Aviv ging es vor zwei Wochen besonders gewalttätig zu. Dort wurden mehr als 170 Menschen verletzt, darunter fast 50 Polizisten. 15 Verletzte mussten mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, nachdem die Sicherheitskräfte mit scharfer Munition das Feuer eröffnet hatten.
Der Auslöser war immer derselbe: Eritreas Botschaften organisieren derzeit überall in der Welt Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des zweitjüngsten Staates in Afrika. Weil das ostafrikanische Land noch keine einzige Wahl erlebt hat und seitdem von nur einem Präsidenten, dem 77-jährigen Isaias Afwerki, regiert wird, ist vielen Eritreern nicht zum Feiern zumute. Was vor allem auf die 600.000 inzwischen aus dem Armutsstaat geflohenen Menschen zutrifft. Monat für Monat kommen nach UN-Angaben rund 4.000 weitere hinzu.
Weitreichende Repression
Die meisten von ihnen fliehen nach Europa, wo sie auf Landsleute treffen, die bereits während des 30-jährigen Bürgerkriegs geflohen waren: Zwischen 1961 und 1991 haben rund ein Drittel der Eritreerinnen und Eritreer (heute knapp fünf Millionen) Zuflucht im Ausland gesucht. Weil sie die eritreischen Zustände nicht am eigenen Leib erfuhren, sind die Exilanten der ersten Generation ihrer alten Heimat gegenüber oft weniger kritisch eingestellt. Sie müssen außerdem befürchten, dass sie oder ihre Kinder keinen Pass und kein Visum für einen Besuch in Eritrea erhalten, falls sie sich nicht loyal verhalten. Dazu gehört auch die Zahlung einer zweiprozentigen Steuer auf ihr Einkommen, die in die Hauptstadt Asmara überwiesen wird.
Asylwerberinnen und Asylwerber berichten von vielfältigen Methoden der Einschüchterung durch ihre Botschaften: "Haben Sie sich überlegt, was das für Ihre Familie zu Hause bedeutet?", lautet eine der Drohungen. Zu Hause Gebliebene werden regelmäßig zur Rechenschaft gezogen, wenn ein Familienangehöriger das Land verlässt – wie einst in der DDR.
Wehrpflicht ohne Enddatum
Die Diktatur am Horn von Afrika wird oft als "Afrikas Nordkorea" bezeichnet: eine Apposition, deren Bestätigung selbst Besuchern des Landes schwerfällt. Eritreas Landschaft ist atemberaubend, seine Hauptstadt Asmara wirkt wie ein Museumsstück aus der Jugendstilzeit. Nach ihrer Errichtung durch italienische Kolonialisten vor dem Zweiten Weltkrieg scheint die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Von den politischen Verhältnissen redet kein Eritreer gern, weil es zu gefährlich ist: dass die Wehrpflicht für Männer kein Enddatum hat, dass – wer sich ihr entzieht – in einem der angeblichen unterirdischen Gefängnisse eingesperrt wird, dass man für jede wirtschaftliche Aktivität eine Genehmigung der Regierung braucht.
Unübersehbar deutlich kam in den vergangenen drei Jahren allerdings die Brutalität der eritreischen Soldaten in der benachbarten äthiopischen Tigray-Provinz zum Vorschein. Dort waren die Eritreer noch gewalttätiger als die äthiopischen Regierungssoldaten: Sie vergewaltigten Frauen und Mädchen, richteten Massaker unter Zivilisten an und verschleppten schließlich alles, was nicht niet- und nagelfest war, nach Eritrea.
Gegen Kritik aus dem westlichen Ausland ist der isolierte Staat praktisch immun. Eritrea erhält ohnehin kaum Entwicklungshilfe, Afwerkis Ziel ist es, autark zu sein, auch wenn das für die Bevölkerung bitterste Armut bedeutet. Nur in einer Hinsicht arbeitet die Europäische Union mit dem Alleinherrscher zusammen: wenn es um die Kontrolle der Migrationsbewegungen mit dem "Khartum-Prozess" geht. Denn mindestens in einer Hinsicht sind die Interessen in Brüssel und Asmara identisch: die Zahl der Flüchtenden so gering wie möglich zu halten. (Johannes Dieterich, 18.9.2023)