Gerne werden Berggorillas, Große Pandabären, Nashörner und ähnlich populäre Tiere als Ikonen aussterbender Spezies angeführt, wenn vom rasenden Diversitätsverlust die Rede ist. Ganz gerecht wird das den reellen Gegebenheiten aber nicht, denn die Mehrheit der Arten verschwindet im Zuge des sechsten großen Massenaussterbens der Erdgeschichte weitgehend anonym von der Bildfläche. Dass daran der Mensch die Verantwortung trägt, daran hegen Fachleute inzwischen keinen Zweifel.

Massenaussterben, ausgestorbener Vogel Elfenbeinspecht
Der Elfenbeinspecht (Campephilus principalis) kam noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Süden der USA und auf Kuba vor. Mittlerweile gilt er als ausgestorben, ebenso wie der Kaiserspecht (Campephilus imperialis), ein naher Verwandter aus derselben Gattung.
Foto: AP/Haven Daley

Eine aktuelle Analyse zeigt, dass die Artenkrise tatsächlich noch tiefer reicht. Nicht nur einzelne Spezies, sondern ganze Gattungen sind vom Aussterben betroffen, wie ein internationales Team in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (Pnas) berichtet. Die Forschenden um Gerardo Ceballos von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko und Paul Ehrlich von der Stanford University in Kalifornien (USA) sprechen von der "Verstümmelung des Lebensbaums".

Gefährdet und verschwunden

Erklärvideo: Warum wir ohne Artenvielfalt kaum überleben können
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Diese Einschätzung basiert nicht zuletzt auf immer besseren Daten, die die International Union for Conservation of Nature (IUCN), Birdlife International und anderen Organisationen und Forschungsinstitute zur Verfügung stellen. Aus diesen aktuellen Zahlen hat das Team 5.400 Gattungen und 34.600 Arten landlebender Wirbeltiere näher untersucht.

73 Gattungen, so fanden die Forschenden heraus, sind seit dem Jahr 1500 ausgestorben. Die größten Verluste erlitten dabei die Vögel mit 44 ausgestorbenen Gattungen, gefolgt von Säugetieren, Amphibien und Reptilien. Auf Grundlage von historischen Aussterberaten bei Säugetieren schätzt das Team, dass die derzeitige Aussterbegeschwindigkeit von Wirbeltiergattungen die natürliche Rate der letzten Million Jahre um das 35-Fache übersteigt. Mit anderen Worten: Die Erde hätte ohne den Einfluss des Menschen in dieser Zeit wahrscheinlich nur zwei Gattungen verloren. In den letzten fünf Jahrhunderten verschwanden durch den Menschen ebenso viele Gattungen wie ohne ihn in 18.000 Jahren.

Schwere Konsequenzen

"Als Wissenschafter sollten wir eigentlich darauf Acht geben, keine Panikmache zu betreiben", räumte Ceballos ein. Aber der massive Verlust, der einem aus den Zahlen entgegentritt, erfordere eine deutlichere Sprache. "Es wäre unethisch, nicht auf das Ausmaß des Problems hinzuweisen." Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Aussterben von Gattungen uns in verschiedener Hinsicht härter trifft als das Aussterben von Arten, so der Forscher.

Wenn eine Art ausstirbt, könnten andere Arten ihrer Gattung oft zumindest einen Teil ihrer Rolle im Ökosystem übernehmen, schreibt das Team. Und da diese Arten einen Großteil des genetischen Materials ihres ausgestorbenen Verwandten in sich tragen, verfügen sie auch über einen Teil seines evolutionären Potenzials. "Wenn ein einzelner 'Zweig' in Form einer Art wegbricht, könnten sich der verbleibende Rest relativ schnell erneut verzweigen und die Lücke füllen", schreiben die Forschenden. In solchen Fällen bliebe die Vielfalt der Arten auf dem Planeten längerfristig mehr oder weniger stabil.

Abhängige Menschheit

Wenn jedoch ganze Gattungs-"Äste" abfallen, hinterlässt das ein riesiges Loch. Um den Verlust an biologischer Vielfalt auszugleichen, braucht es Dutzende von Millionen Jahren. Und das gefährde auch die Menschheit selbst, denn die Stabilität unserer Zivilisation würde in hohem Maße von den Leistungen abhängen, die die biologische Vielfalt der Erde erbringt, so Ceballos.

Als Beispiel führen die Forschenden ist die zunehmende Verbreitung der Borreliose an: Weißfußmäuse, eine Gattung von Neuweltmäusen, gelten in Nord- und Mittelamerika als Hauptüberträger der Krankheit. Früher konkurrierten sie mit Wandertauben um Nahrung wie beispielsweise Eicheln. Mit dem Verschwinden der natürlichen Vorkommen der Tauben und dem Rückgang von Raubtieren wie Wölfen und Pumas haben die Mäusepopulationen zugenommen – und mit ihnen die Fälle von Borreliose beim Menschen.

Wandertaube, ausgestorben, USA
Die Wandertaube (Ectopistes migratorius) verschwand im Osten der USA schon Ende des 19. Jahrhunderts aus der Natur. Ihr Aussterben trug indirekt zur weiteren Ausbreitung von Borreliose unter Menschen bei.
Foto: James St. John

Tropen besonders betroffen

Der Schutz der Gattungen sei damit letztlich auch Selbstschutz. Entsprechende Bemühungen sollten sich vorrangig auf die Tropen konzentrieren, forderten Ceballos und Ehrlich. Dort würde derzeit das Aussterben ganzer Gattungen am schnellsten voranschreiten. Darüber hinaus wünschen sie die Wissenschafter auch eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Krise des Artensterbens.

"Die Größe und das Wachstum der menschlichen Bevölkerung, das zunehmende Ausmaß ihres Verbrauchs und die Tatsache, dass der Verbrauch sehr ungleich verteilt ist, sind allesamt wichtige Bestandteile des Problems", warnen die Autoren. "Die Vorstellung, dass man mit diesen Dingen weitermachen und die Artenvielfalt retten kann, ist verrückt", fügte Ehrlich hinzu. Es sei die klassische Situation, bei der man munter dabei sei, den Ast abzusägen, auf dem man gerade sitzt. (Thomas Bergmayr, 19.9.2023)