Bis zu 48 Farbtöne können für ein Hermès-Seidentuch verwendet werden. Jede Farbe wird einzeln gedruckt.
Bis zu 48 Farbtöne können für ein Hermès-Seidentuch verwendet werden. Jede Farbe wird einzeln gedruckt.
Maxime Verret

In einem weitläufigen Betriebsgebäude in Bourgeon Jallieu, unweit von Lyon, steht ein langer weißer Tisch, das gleißende Licht der Leuchtstoffröhren darüber erhellt circa 20 Arbeitsplätze. Sie sind ausschließlich von Frauen besetzt. Vor jeder ist eine Art festes Kissen positioniert, das die Facharbeiterin mit Stoff überzieht und einer Hermès-Bandarole verziert. Leicht nach vorn gekippt und auf einem Podest befestigt stellt er ein wichtiges Utensil im Alltag dieser Frauen dar. Darauf heften sie die edlen Carrés von Hermès und verpassen ihnen den letzten Schliff. Das Besondere an den Seidentüchern der französischen Luxusmarke ist der Saum. Dieser wird nach innen auf die Vorderseite eingerollt und mit losem Faden geheftet. Roullotage nennt sich diese Technik. Zwei Jahre dauert es, bis die Arbeiterinnen sie beherrschen. Gekonnt und mühelos wirkt es, wenn sie die Tücher bearbeiten. Wie anspruchsvoll die Roullotage tatsächlich ist, zeigt ein Selbstversuch, aber dazu später.

So kunstvoll die Technik sein mag, allein ihretwegen kauft wohl niemand ein Hermès-Carré. Auch andere Luxusmarken führen Seidentücher in ihren Sortimenten. Aber keines ist so ikonisch wie die von Hermès. Man muss kein Fashion-Victim sein, um ein Bild von dem berühmten Accessoire im Kopf zu haben: Verspielte Motive, die oft eine Geschichte erzählen, filigrane Muster und eine Vielzahl an wunderschönen Farben. So weit, so bekannt. Doch das war nicht immer so. Der Weg zur Ikone war ein weiter.

Erst hundert Jahre nach der Gründung der Firma durch Thierry Hermès wurde das erste Carré lanciert. "Das Design stammt von meinem Großvater, Robert Dumas. Er war sehr kreativ und künstlerisch veranlagt", erzählt Guillaume de Seynes, Managing Director bei Hermès. "Jeu des omnibus et dames blanches" nennt sich das Motiv mit kreisrund angeordneten Bussen und einer Damengesellschaft im Zentrum. Es sei auch Dumas, dem Schwiegersohn von Émile Hermès, Enkel des Unternehmensgründers, zu verdanken, dass Farbe in die Welt von Hermès kam. Davor war man auf Sattlerei und Lederverarbeitung fokussiert. Gedeckte Brauntöne dominierten das Sortiment. Das änderte sich mit den Seidentüchern. Das Unternehmen war damals Hauptlieferant für die Outfits von Jockeys. Die bestanden aus Seide – man hatte also schon Expertise in dem Feld. "Mein Großvater bewies großes unternehmerisches Geschick. Er erkannte, dass Pferdekutschen zunehmend vom Automobil abgelöst werden, und passte sich mit seinem Angebot an die neuen Gegebenheiten an", sagt de Seynes. Man habe das Sortiment femininer und auch leistbarer gestalten wollen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren avancierte das Carré schließlich zum Kassenschlager. Die Seidentücher wurden für das Unternehmen sogar wichtiger als die Lederwaren. Heute habe sich das Verhältnis wieder gedreht, berichtet Guillaume de Seynes. Leder mache 43 Prozent des Gesamtumsatzes aus, Seide komme auf sieben Prozent. Sind die Carrés also wieder in die Bedeutungslosigkeit versunken? Mitnichten, winkt der Managing Director ab.

Seidenproduktionsstraße

Sonst hätte man wohl kaum im Juli eine neue Seidenmanufaktur eröffnet. Zwei Jahre hat der Um- und Ausbau des Betriebsgebäudes gedauert. Nun können vor den Toren Lyons, in Pierre-Bénite, auf mehreren Produktionsstraßen bunte Motive auf Seidentücher gedruckt werden. Bis zu 48 Farben kann ein Carré beinhalten. 75.000 unterschiedliche Töne umfasst die hauseigene Bibliothek, aus denen die Kreativchefs jedes Jahr sechs bis acht Farbschemata komponieren. Jede Farbe, die auf einem Tuch Verwendung finden soll, wird einzeln aufgetragen. Dafür braucht es eine eigene Schablone. Diese wird von Fachpersonal erstellt, basierend auf den Motivvorlagen der jeweiligen Künstler und Künstlerinnen. Früher passierte das gänzlich von Hand, heute mithilfe von Smart Pens und Photoshop.

Mitte Juli wurde eine neue Hermès-Seidenmanufaktur in der Nähe von Lyon in Betrieb genommen.
Mitte Juli wurde eine neue Hermès-Seidenmanufaktur in der Nähe von Lyon in Betrieb genommen.
Maxime Verret

Durch das Zusammenspiel aus Technologie und händischer Arbeit werden dann die einzelnen Farbschablonen auf feine Polyestermembranen aufgebracht und von einem Roboterarm auf die Produktionsstraße gehievt. Auf dem 150 Meter langen Tisch platzieren Mitarbeiter den Seidenstoff ganz präzise. Jede Unregelmäßigkeit würde ein ungenaues Auftragen des Motivs bedeuten und die Tücher unbrauchbar machen.

Direkt über der Seidenbahn befindet sich ein fahrbarer Rahmen, in dem die jeweilige Schablone eingespannt wird. Facharbeiter gießen die fertig angerührte Farbe darauf, eine automatisch gesteuerte Rakel fährt hin und zurück, hin und zurück, und der Rahmen bewegt sich weiter zur nächsten Position. Die Geräusche dieser rhythmischen Bewegung erinnern an ruhige Atemzüge, fast scheint die Maschine lebendig. Hat sie die 150 Meter absolviert, sind die nächste Schablone und damit der nächste Farbton an der Reihe. So nimmt das Motiv langsam Gestalt an. Am Ende wird die fertig bedruckte Stoffbahn über der Produktionsstraße zum Trocknen aufgehängt, danach zugeschnitten und zum Schluss noch von den Facharbeiterinnen gesäumt.

Wie schwierig die Technik Roullotage für ungeübte Finger ist, durfte man beim Werksbesuch selbst erfahren. Das Stoffende vor- und zurückrollen, die Nadel direkt am Faden durch die Saumrolle führen und im Abstand von sieben Millimetern die nächste Naht machen. Wer die Angaben nicht exakt einhält, zu viel oder zu wenig Druck anwendet, nicht richtig rollt oder sonst einfach feinmotorisch nicht besonders versiert ist, wird schnell frustriert. Ungleichmäßige Nähte, Wülste im Saum, so soll das nicht aussehen! Spätestens bei den Ecken muss die Expertin zu Hilfe eilen und übernehmen. Ruckzuck hat sie nicht nur die schwierigste Stelle makellos erledigt, sondern auch einige Zentimeter weiter gesäumt, was den Laien beeindruckt und etwas demotiviert zurücklässt. Man versteht nach dem ernüchternden Selbstversuch, warum es zwei Jahre dauert, bis die man diesen Arbeitsschritt beherrscht.

Managing Director bei Hermès Guillaume de Seynes bevorzugt aber Krawatten statt Carrés.
Seit 22. September empfängt die neu renovierte Boutique am Wiener Graben 22 wieder Kundschaft. Dort gibt es natürlich auch die ikonischen Carrés. Guillaume de Seynes, Managing Director bei Hermès, bevorzugt aber Krawatten.
©Ambroise Tézenas

Junge, kritische Klientel

Trotz aller Expertise: Mit vielen Arbeitsschritten gehen auch viele potenzielle Fehler einher. Bei Hermès kommen aber selbstredend nur makellose Stücke in den Verkauf. Was passiert also mit der Ausschussware? "Die wird recycelt und für Materialien wie Dämmstoffe verwendet. Unverkaufte Seidenstücke werden zu Schutzbeuteln für Lederwaren verarbeitet", erklärt Guillaume de Seynes. Man sei außerdem stets bemüht, den Wasserverbrauch zu senken und Transportwege möglichst umweltfreundlich zu gestalten. So setze man auf Schiffe und nicht auf Flugzeuge. Ein Großteil der Seidenverarbeitung passiert in Frankreich, bloß das Rohmaterial bezieht Hermès von einem Lieferanten in Brasilien. Sind ökologische Maßnahmen eine Notwendigkeit, um eine junge, oft kritische Klientel anzusprechen? "Unsere Kundschaft vertraut uns, dass wir verantwortungsvoll handeln. Die Jüngeren interessieren sich mehr für Nachhaltigkeit, aber auch für sie stehen die Handwerkskunst, Kreativität und Qualität im Vordergrund", sagt de Seynes.

Der erste Berührungspunkt junger Kundinnen mit Hermès sind, wie bei vielen anderen Luxusmarken, die Kosmetikprodukte. "Im Vergleich zu Drogerieware sind unsere Lippenstifte natürlich sehr kostspielig. Auch wenn sie wohl die günstigsten unter den Hermès-Artikeln sind, spiegeln die Verkaufspreise die Kosten der Materialien und die Zeit wider, die für die Herstellung benötigt wird", sagt de Seynes. Als Nächstes gönnt man sich dann ja vielleicht ein Seidenaccessoire. Das schmale "Twilly" ist unter 200 Euro erhältlich. Ein Carée im klassischen Format 90 mal 90 Zentimeter kostet 460 Euro. Guillaume de Seynes selbst trägt am liebsten Krawatten. An diesem Tag eine rote mit grauem Muster. Das Design stammt von Jean-Louis Dumas und ist inspiriert von einem schnöden Drahtwaschl. Sieht trotzdem edel aus! Die Hermès-Krawatten werden übrigens ähnlich virtuos mit losem Faden genäht wie die Carrés. Aber das ist eine andere Geschichte ... (RONDO, Michael Steingruber, 26.9.2023)

Die Reise nach Lyon wurde unterstützt von Hermès.