Der Gang zur Polizeistation ist für viele Betroffene von Gewalt schwer.
Der Gang zur Polizeistation ist für viele von Gewalt Betroffene schwer.
Heribert Corn

Warum zeigen so viele Frauen sexualisierte oder physische Gewalt nicht an? Diese Frage warfen zuletzt die Diskussionen rund um Vorwürfe der sexualisierten Übergriffe gegen prominente Männer auf.

In Medienberichten wollen mutmaßlich Betroffene oft anonym bleiben. Bei den kürzlich eingestellten Ermittlungen gegen Till Lindemann hieß es vonseiten der Staatsanwaltschaft zu den Gründen, Betroffene hätten sich zwar anonym an Medien, aber nicht an die Behörden gewandt. Auch deshalb hätten Tatvorwürfe nicht ausreichend konkretisiert werden können. Wenn mutmaßliche Opfer anzeigen, sind sie nicht mehr anonym – und können selbst angezeigt werden. Das ist für viele Betroffene ein Grund, unbedingt anonym bleiben zu wollen.

Bei jeder Anzeige gibt es das Risiko einer Gegenanzeige, sagt Patrica Hofmann. Sie ist Anwältin in Wien und auf Gewalt- und Opferschutz spezialisiert. Solche Gegenanzeigen können sich etwa darauf beziehen, dass auch der Partner behauptet, er sei von seiner Frau geschlagen worden. Oder es können auch Gegenanzeigen wegen Verleumdung sein.

Trotzdem anzeigen

Verleumdung ist – wie Sexualdelikte auch – ein Offizialdelikt. Somit muss die Staatsanwaltschaft prüfen, ob ausreichend Beweise vorliegen, um Anklage erheben zu können. Ein Freispruch, zum Beispiel wegen Vergewaltigung, reicht auch nicht zwangsläufig für eine Gegenanzeige wegen Verleumdung aus.

Dass das Risiko einer Gegenanzeige besteht, soll aber nicht heißen, dass man keine Anzeige machen soll, sagt Hofmann. Ein häufiger weiterer Grund, keine Anzeige zu erstatten, ist, dass viele nicht wissen, was dann genau auf sie zukommt. Genau deshalb solle man sich an Opferschutzeinrichtungen wenden, empfiehlt Hofmann, "dort kann man auch besprechen, was eine Anzeige bedeutet". Denn mit einer Anzeige ist es nicht vorbei. Die Staatsanwaltschaft befasst sich damit, und man muss womöglich im Ermittlungsverfahren oder bei einer Hauptverhandlung noch einmal aussagen, falls es zu einer Anklage kommt. In Opferschutzeinrichtungen kann man mit Expert:innen viele Fragen klären: Was bedeutet dieser ganze Prozess für mich? Gibt es zusätzliche Beweise? Gibt es Zeug:innen? War das überhaupt strafbar? Was, wenn das Verfahren eingestellt wird? Wie lange ist der Vorfall her? Ist es angesichts der psychischen Belastung sinnvoll für mich, eine Anzeige zu machen?

Finanzielles Risiko?

Die Angst vor einem finanziellen Risiko im Zuge einer Anzeige könnte vielen Betroffenen auch das Wissen um die Möglichkeit der Prozessbegleitung mildern. Opfer von Sexualdelikten, körperlicher Gewalt oder auch Stalking haben Anspruch auf eine psychosoziale und juristische Prozessbegleitung, erklärt Hofmann. Eine solche Begleitung wird wiederum von Opferschutzeinrichtungen organisiert. Betroffenen werden dann auch auf Gewalt spezialisierte Opferanwältinnen zur Seite gestellt, die sie dann in einem Verfahren vertreten – kostenlos. "Diese Prozesse können sehr belastend sein, und es ist sehr wichtig, jemanden zu haben, der mich an der Hand nimmt und mich durch dieses Verfahren begleitet", sagt Hofmann.

Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive gibt es jedenfalls wichtige Gründe für eine Anzeige. "Letztlich können Strafbehörden oftmals nur durch eine Anzeige Kenntnis davon erlangen, dass etwas passiert ist, und Ermittlungen aufnehmen", sagt Hofmann. Und nur so könne es zu einem Strafverfahren oder einer Verurteilung kommen. Das könne zum einen wichtig für die Betroffenen selbst sein, aber auch zum Schutz anderer Opfer. Hofmann: "Viele Opfer machen eine Anzeige, weil sie nicht wollen, dass das noch jemanden passiert." Es gehe Betroffenen auch oft nicht darum, dass die Täter ewig weggesperrt werden, sondern auch darum, sich selbst einzugestehen, dass das nicht in Ordnung war und dass der Täter das auch weiß, sagt Hofmann. (Beate Hausbichler, 20.9.2023)