Flaneur Schutting Tagebuch Literatur
Besitzt bei aller Sanftheit des poetischen Blicks eine Nestroy’sche Begabung zu wütendem Witz: Julian Schutting, ein getreulicher Aufzeichnungskünstler.
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Auf Buchseite 410 stößt man in Julian Schuttings neuem Diarium endlich auf den Namen Walter Benjamins. Gemeint ist derjenige unter den zentralen Denkern der Moderne, der die Rolle des Flaneurs überhaupt erst fruchtbar gemacht hat. Ein solcher, ursprünglich von Charles Baudelaire ersonnener Stadtbewohner mischt sich, indem er sich selbst als Dandy verkleidet, unter die Menge. Er schaut um sich: gebannt von den Merkmalen einer unruhigen Stadtlandschaft, die ihm längst zum Biotop, zur eigentlichen, wahren Natur geworden ist. Im Gegenzug wünscht er, angeblickt zu werden.

Jemand wie Schutting (er feiert demnächst seinen 86. Geburtstag) saugt alle Eindrücke städtischen Lebens wie ein Schwamm auf. Abends transformiert er sie in sein Werk. Sein neues trägt den Titel Auf vertrauten Umwegen, es enthält "datierte Blätter" von 2011 bis zum Jahresende 2016. Es gleicht am ehesten einer der Krumauer Stadtansichten, wie sie Egon Schiele in Öl gemalt hat: Die Flächen grenzte der Künstler in tausenderlei Schattierungen sorgsam gegeneinander ab.

Von früh bis spät abends scheint Schutting in groben Schuhen unterwegs. Er registriert nie gesehene Farbnuancen: wenn er, Bewohner einer Döblinger Dichterklause, die Stadt wie eine im Schlaf atmende, vor ihm ausgebreitete Riesin belauscht.

Der Blick auf die Donau, auf die Eisstöße der Fließgewässer, fördert unerhörte Eindrücke zutage, man möchte sie Blickdichtungen nennen. Ein "schmierig anmutender" Donauwasserstreifen gleicht sodann der "gestockten Kernfettschicht auf ausgekühlten Nachtkriegssuppen". Das visuelle Prädikat folgt im Nu: "Perlmuttglanz von ranzigem Kokosfett!"

Politische Dimension

Natürlich bleibt es jedem Leser, jeder Leserin unbenommen, die politische Dimension den Proben einer solchen Beschreibungskunst hinzuzufügen. Die Abfolge von Julian Schuttings Tagebuchblättern folgt erstaunlich getreu der Ordnung des Kirchenjahres. Nicht nur die strukturbildende Kraft des Ave-Läutens spielt eine Rolle. Viele Eindrücke empfängt der Dichter als passionierter Hörer von Ö1 und Radio Stephansdom im Halbschlaf. "Misshörte" Beiträge – oder auch nur törichte Versprecher – bilden das Ausgangsmaterial für zahlreiche Langgedichte. Zu anderer Gelegenheit lehrt Schutting an Dichterschulen die Kunst des Lesens und Schreibens. Er scheut dabei nicht die Zuhilfenahme einer Stoppuhr.

Nicht nur die Rinnsale der Donau, auch die Gattungsgrenzen verfließen in diesen Aufzeichnungen permanent. Die Lebensform dieses größten lebenden Romantikers ist diejenige der Durchlässigkeit. Dem Aneinanderschlagen grober Wandersocken auf der Wäscheleine gewinnt Schutting eine solche Vielzahl von Beobachtungen ab, dass man meint, einem Paar beim Liebesspiel zuzusehen. Die Konklusion der Passage ist dagegen von Nestroy’scher Schärfe. Die eine Socke habe, vom Wind unaufhörlich ins Flattern versetzt, ihrer Nachbarin "eine Jahrhundertwatsche verpasst".

Der so sehr sanfte Julian Schutting besitzt eine famose Befähigung zur Wutartikulation. Er übt sie gelegentlich aus. Zu anderer, besserer Gelegenheit streift er jedoch auf schmiegsam leisen Sohlen durch Wien, meist von den Sieveringer Weinbergen herab, oft an der Seite der von ihm ganz altmodisch – und wohl auch schmerzlich – geminnten Herzensdame "Etta".

Kluge Empathie

Die Gestalt des leiblichen Bruders scheint in diesen Aufzeichnungen ebenso nur flüchtig auf wie eine Reihe anderer Zeitgenossen. Die Persönlichkeit unseres heute amtierenden Herrn Bundespräsidenten beurteilt Schutting erstaunlich geringschätzig. Das Aufflammen der Flüchtlingskrise 2016 veranlasst den Dichter zu ein paar klugen Bemerkungen der Empathie.

Als echter Flaneur ist Julian Schutting vornehmlich daran interessiert, den Dingen und Lebewesen ihre Befähigung zur Verwandlung abzuschauen. Er besitzt ein unbestechliches Auge für rittlings verendete Hirschkäfer, er bestaunt Nacktschnecken für ihre Fähigkeit, einander aufzufressen. Es ist eben doch so, wie Benjamin gemeint hat: Das Kontinuum von Geschichte wird aufgesprengt. Erst durch den sprachschöpferischen Blick des Poeten wird die Jetztzeit mit Vergangenheit gefüllt. Jemand wie Julian Schutting tut das, wie er schreibt, wienerisch, nämlich: "mildaugat". (Ronald Pohl, 20.9.2023)