Während alle Blicke nach Lampedusa gerichtet sind, ereignen sich an der Küste Nordfrankreichs ähnliche Szenen wie im Mittelmeer zwischen Italien und Tunesien. Mit den gleichen Dramen und Tragödien.

Tausende Flüchtlinge und Migranten wagen tagtäglich die riskante Reise übers Wasser auf die Britischen Inseln. Die Zahl von 45.000 Menschen, die im Jahr 2022 die Überfahrt geschafft haben, dürfte heuer übertroffen werden. Im September wächst der Andrang. Seit Monatsbeginn haben laut Angaben der französischen Küstenwache 3.400 Menschen in Schlauchbooten von den weiten Stränden bei Calais und Dünkirchen ins englische Dover übergesetzt.

Ein Schlauchboot mit Flüchtlingen und Migranten im Ärmelkanal
Luftaufnahme eines Schlauchboots voller Flüchtlinge und Migranten im Ärmelkanal.
AFP/SAMEER AL-DOUMY

Dazu trägt auch bei, dass die Wetterbedingungen derzeit günstig sind – günstiger vor allem als im Herbst und Winter, wenn die Erfrierungsgefahr wächst. Die Übersetzungswilligen setzen sich jedoch großen Lebensgefahren aus: Der Ärmelkanal ist eine der meistbefahrenen Handelsschiffrouten der Welt, und große Frachter hinterlassen hohe Wellen, die Gummiboote zum Kentern bringen. Dazu verursacht der meterhohe starke Gezeitenwechsel starke, ständig wechselnde Strömungen.

"Taxi boats" im Einsatz

Die französische Seenotrettung ist in den letzten Monaten – mit finanzieller Hilfe aus London – verstärkt worden. Die britische Regierung verlangt allerdings im Gegenzug, dass die französische Polizei die Abfahrten der Boote verhindert. Ein besonderes Auge hat die Polizei auf die sogenannten "taxi boats". Dabei handelt es sich um kaum meerestüchtige Boote von Schlepperbanden, die nachts die Strände bei Calais abklappern und Migrantinnen und Migranten, die zuvor mehrere tausend Euro bezahlt haben, aufnehmen. Oder besser gesagt mit ihnen die Boote auffüllen – bis an die Grenze des Untergehens.

Da die Polizei mittlerweile mit Nachtsichtkameras und Drohnen ausgerüstet ist und die Patrouillen verstärkt worden sind, müssen die Schlepper sehr rasch handeln, was die Gefahr noch erhöht. In den letzten Tagen wurden Boote mit 70 bis 80 Menschen – darunter auch je ein Dutzend Frauen und Kinder – kurz vor dem Sinken gerettet, wie das französische Hilfswerk Osmose62 berichtete. Diesem zufolge wähnen sich die vielen Albaner und mehrheitlich anglophonen Afghanen kurz vor dem Ziel ihrer Wünsche. Teils Tausende von Kilometern und unter harten Strapazen angereist, scheuen sie vor keiner Gefahr zurück, um über den Ärmelkanal zu gelangen.

Schlepper weichen aus

Der humanitäre Retter Oliver Ternisien sagte gegenüber dem Newsportal "Huffington Post", die Migranten gingen "immer mehr Risiken" ein, um noch vor der kalten Jahreszeit auf die britischen Inseln zu gelangen. Lokale Fernsehstationen berichten zudem, die Schlepper wichen immer stärker von Calais – nur 32 Kilometer von Dover entfernt – an die weiter südlich gelegenen französischen Strände aus, jüngst etwa in die Bucht Authie, die fast 100 Kilometer von England entfernt ist.

Flüchtlinge und Migranten an der französischen Küste nahe Gravelines
Eine Luftaufnahme von Flüchtlingen und Migranten an der französischen Küste nahe Gravelines, nachdem deren Überfahrtversuch gescheitert ist.
AFP/SAMEER AL-DOUMY

Die Hilfsorganisationen arbeiten nachts mit der französischen Polizei zusammen, um tödliche Dramen zu verhindern. Zugleich werfen sie den französischen Behörden aber auch vor, die Gefahr indirekt selber zu schüren: Den Zugtunnel unter dem Kanal und den Fährhafen bei Calais haben die Franzosen – ebenfalls mit britischer Co-Finanzierung – so stark gesichert, dass für Migranten auf diesem Weg keinerlei Durchkommen mehr ist. Also versuchen sie es in Schlauchbooten, in denen sie skrupellosen, oft selbst albanischen Schleppenbanden auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind. Mitte August kamen auf diese Weise sechs Migranten ums Leben. Die nächste Tragödie ist nur eine Frage der Zeit. (Stefan Brändle aus Paris, 20.9.2023)