Marvel Snap
Die bekannte Marvel-Lizenz hat einen zusätzlichen Reiz, das Spiel zu konsumieren.
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Es ist 6.32 Uhr. Gerade bin ich aufgewacht. Wie bei vielen Menschen ist die erste Aktion an diesem Tag der Griff zum Smartphone. Während andere Nachrichten lesen, Tiktok starten oder ihre Aktienkurse prüfen, steige ich in "Marvel Snap" ein. Das kostenlose Mobile-Kartenspiel ist Ende letzten Jahres erschienen, und seitdem spiele ich täglich mehrere Runden. Egal ob ich den Müll runterbringe, fünf Minuten auf den Bus warte oder – ich sag, wie es ist – aufs Klo gehe.

"Marvel Snap" ist immer dabei. Noch hat es mich nicht 700 Euro gekostet wie meine letzte Free-to-Play-Leidenschaft "Hearthstone", das ich über Jahre gespielt habe. 40 Euro oder so hat mir das Spiel im letzten halben Jahr aber in jedem Fall aus der Tasche gezogen, aber natürlich noch viel, viel mehr Zeit.

Die kurzen Runden, die zahlreichen Belohnungen – all das passt gerade perfekt in mein Leben als Vater und Berufstätiger, der viel zu wenig Zeit hat, seine Leidenschaft Videospiele ausreichend auf PC oder Konsole auszuleben. Aber ab wann muss ich mir Sorgen machen? Welche Mechanismen ziehen mich derart stark in diese Welt? Ich habe das Gespräch mit einem mit dem Thema vertrauten Psychologen gesucht und hoffe, damit auch anderen eine kleine Therapiesession zu ermöglichen.

Spielzeit kein Kriterium

Benjamin Strobel ist Psychologe, der sich mit seinem Projekt "Behind the Screens" Videospielen aus psychologischer Perspektive nähert. Er attestiert mir keine klassische Spielsucht, nachdem wir kurz über mein Problem gesprochen haben. "Von einer klinisch relevanten Sucht spricht man erst, wenn es durch das Spielverhalten zu deutlichen Problemen kommt", sagt Strobel. Würde mein Alltag leiden, ich nicht in der Arbeit auftauchen oder andere Hobbys vernachlässigen, müsste ich mir tatsächlich Sorgen machen.

Die Übergänge von exzessiven Spielen zu einer ausgewachsenen Sucht sind allerdings "fließend", und es ist laut Psychologen deshalb ratsam, schon bei ersten Anzeichen das eigene Verhalten "zu überdenken". Möchte ich eigentlich so viel Zeit zum Spielen aufwenden? Bin ich zufrieden mit meiner Game-Life-Balance oder möchte ich etwas ändern? Strobel: "Manchmal kommt man sich ziemlich blöd vor, wenn man das Gefühl hat, man wird von seinem Smartphone gesteuert anstatt umgekehrt."

Wichtig sei außerdem: Die reine Spielzeit ist kein Kriterium für eine Sucht. Beispielsweise spielen E-Sportlerinnen und -sportler mehr, weil es ihr Beruf ist – auch auf Journalistinnen und Journalisten, die Spiele rezensieren, trifft das zu. Oder es könnte sein, dass man in Ferienzeiten oder im Urlaub mehr spielt als sonst. Oder dass man mal ein Wochenende durchgespielt hat, wenn ein neues Spiel erschienen ist. Das ist für sich genommen alles noch nicht problematisch: "Wenn aber Probleme dazukommen, sollte man genauer hinsehen."

Marvel Snap
Es gibt unzählige Karten, und alle vier Wochen kommen neue hinzu.
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(Glücksspiel-)Mechanismen verstehen

"Marvel Snap" kennt viele Tricks, um Spielerinnen und Spieler bei der Stange zu halten. Viele davon kennt man auch aus anderen Spielen dieser Art. Es gibt tägliche Log-in-Boni, in Form einer Spielwährung. Die Abstände zwischen Belohnungen, die man etwa für das erfolgreiche Spielen bestimmter Karten erhält, sind vor allem zu Beginn noch sehr kurz gehalten. Erst wenn man länger spielt, also das Spiel bereits in den Alltag integriert ist, werden diese Abstände größer.

Strobel erkennt in den Belohnungen die von vielen Instanzen mittlerweile kritisierten Lootboxen. Viele der Belohnungen enthalten nur selten etwas Wertvolles, etwa eine neue Karte, meistens bekommt man aber Kleinkram. "Dieses Vorgehen ist klassischen Verstärkerplänen aus der Psychologie entlehnt", erklärt der Experte. Hier weiß man: Um ein Verhalten aufzubauen, muss man zunächst stark und häufig belohnen. Später führen jedoch zufällige Belohnungen zu einer besseren Stabilisierung des Verhaltens. Von Spielen wie "Marvel Snap" wird mal also "eiskalt konditioniert".

Besonders kritisch wird so eine Form der Manipulation laut Psychologen, wenn es darum geht, Spielern möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Dann spricht man auch von "Dark Patterns". Auch hier ist "Marvel Snap" gut aufgestellt. Ein Kernelement, das wir auch aus anderen Spielen kennen, ist der "Battle Pass". Dabei handelt es sich um ein zusätzliches Belohnungssystem, das in der Regel zweigleisig aufgestellt ist: mit einem kostenlosen Pass und einer Bezahlvariante. Spielt man kostenlos, erhält man beispielsweise nur jede fünfte Belohnung. Möchte man auch die übrigen, muss man zahlen. Die Strategie ist hier also, Spielern jede Menge Belohnungen vor die Nase zu halten, die sie allesamt verpassen, wenn sie kein Geld ausgeben.

"Dieses Vorgehen macht sich das Phänomen der Reaktanz zunutze", sagt Strobel. Das funktioniert so: Wenn Menschen den Eindruck haben, dass ihre Freiheit oder ihre Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, verspüren sie einen gewissen Druck, diese wiederherzustellen. "Salopp gesagt: Man möchte immer das haben, was man nicht haben darf." Das funktioniert bei Battle Pass oder Season Pass laut Experten gleich doppelt: einmal, wenn die ganzen Belohnungen an mir vorbeiziehen, die ich nicht haben darf, ohne zu bezahlen. Und dann nochmal in ein paar Wochen, wenn der aktuelle Pass abläuft und alle Belohnungen verloren gehen, die ich bis dahin nicht abgeholt habe.

Zusätzlich kommt mit der Möglichkeit, den Einsatz in jedem Spiel zu verdoppeln, eine zusätzliche Glücksspielmechanik hinzu, die den Kick noch einmal verstärkt. Ich merke das selbst immer wieder. Manchmal bin ich in einer Runde unsicher, erhöhe aber auf Verdacht den Einsatz. Wenn dann auch das Gegenüber erhöht, steigt der Nervenkitzel, weil ein Sieg ordentlich Punkte bringen würde.

Marvel Snap
Natürlich kann man das Spiel mit Echtgeld bewerfen. Die Größenordnungen orientieren sich an anderen Vertretern des Free-to-Play-Genres.
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Legal, illegal ...

All diese Manipulationsstrategien sind laut Strobel "völlig legal". Verschiedene Länder unterscheiden sich zwar darin, wie stark sie glücksspielartige Elemente in Games beschränken, aber verboten sind solche Dinge nur in ganz wenigen Ländern. In Deutschland wurde beispielsweise vor wenigen Jahren das Jugendschutzgesetz novelliert. Seitdem darf die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, die in Deutschland Alterskennzeichen für Spiele vergibt, solche Elemente bei ihrer Beurteilung berücksichtigen. Das Ergebnis ist etwa, dass das neue "FIFA" – jetzt "EA Sports FC 24" – nicht mehr ohne Altersbeschränkung freigegeben ist, sondern ab 12 Jahren. Grund dafür ist der Ultimate-Modus, in dem man Geld für Lootboxen ausgeben kann, in denen zufällige Gewinne stecken.

Erhalten werden solche Spiele vor allem durch die sogenannten "Wale", die maximal fünf Prozent der jeweiligen Spielerschaft ausmachen. Diese werfen mehrere hunderte oder auch tausende Euro in solche Spiele und Mechanismen. Die allermeisten Spielerinnen, so sagen Studien, investieren in Free-to-Play-Games allerdings weniger als 20 Euro im Monat, was in Summe natürlich noch immer sehr viel sein kann für die Entwickler und Publisher, wie man von den erfolgreichen Vertretern des Genres weiß.

Strobel: "Studien zeigen auch, dass Menschen, die mehr Lootboxen in Spielen kaufen, auch häufiger Probleme mit pathologischem Glücksspiel haben." Einen Zusammenhang zwischen dem Geldausgeben für Lootboxen und dem eigenen Einkommen gibt es laut Experten allerdings nicht: "Man kann also schlussfolgern, dass glücksspielartige Mechanismen Personen mit Sucht-Anfälligkeit und solche mit geringem Einkommen besonders hart treffen."

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Natürlich gibt es mittlerweile zahlreiche Youtuber, die sich auf das Spiel spezialisiert haben und täglich Tipps geben.
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Lösungssuche

Wie also von diesem Gefühl loskommen, dass ich ständig "Marvel Snap" spielen will, wenn es doch ohnehin so viele potenzielle Fallen implementiert hat? Der Psychologe wiederholt sein Eingangsstatement: "In Bereichen des intensiven oder sogar exzessiven Spielens kann es helfen, sich selbst zu hinterfragen: Habe ich gerade noch Freude am Spielen, oder fühle ich mich schon unter Druck gesetzt? Vernachlässige ich vielleicht andere Dinge, die mir wichtig sind?"

Ich überlege kurz. Noch schneide ich keine Zeit von meiner Familie oder meinem Beruf ab, um im Spiel Level-ups zu sammeln. Auch verbringe ich maximal 30 Minuten am Stück mit dem Spiel, weil es mir dann meist reicht oder ich Wichtigeres zu tun habe. So gesehen bin ich also nicht betroffen und kann vorerst weiter mit Spider-Man oder Hulk meiner Spielelust frönen. Wenn oben erwähnte Punkte sich ändern, dann heißt es reevaluieren, rät Strobel. Das werde ich. Im Notfall heißt es dann: Spiel deinstallieren und Abstand halten von diesem und ähnlichem Teufelszeug. Aber bis dahin werfe ich am besten kurz das Handy an und schaue, welche Belohnungen heute auf mich warten. (Alexander Amon, 23.9.2023)