Der 24. Juni 2008 dürfte für das Auktionshaus Christie's rückblickend ein durchaus bemerkenswerter Tag gewesen sein. Insbesondere für Andreas Rumbler, damals Chef von Christie's Deutschland. Er betreute einen neuen Klienten, der erst wenige Wochen zuvor bei Auktionen in New York seine Kaufkraft beeindruckend bewiesen hatte: Innerhalb von nur 24 Stunden hatte er für nur drei wichtige zeitgenössische Kunstwerke mehr als 155 Millionen Dollar springen lassen. In London stand nun die Sparte "Impressionist & Modern Art" auf dem Programm, und besagter Kunde begehrte daraus nicht nur ein oder zwei, sondern gleich einen ganzen Schwung an Werken. Die Gebote dafür deponierte er lieber diskret übers Telefon als für jeden erkennbar im öffentlichen Getümmel des Auktionssaals.

Eine kleine Auswahl der von Darja Schukowa und Abramowitsch von 2008 an aufgebauten Kunstsammlung mit Werken von Lucian Freud, Francis Bacon, Egon Schiele, Piet Mondrian und Amedeo Modigliani.
Collage: Lukas Friesenbichler

Die Bilanz am Ende des Abends: Neben Schlüsselwerken russischer Herkunft, darunter Natalia Gontscharowas Les Fleurs (11,22 Millionen Dollar), hatte Rumblers Klient auch ein Pastell von Edgar Degas (Danseuse a la Barre, 27,86 Millionen Dollar) und eine aquarellierte Kreidezeichnung von Egon Schiele (Liegende Frau mit grünen Hausschuhen, 4,36 Millionen Dollar) ersteigert. Anderntags sollte er sich bei Kontrahent Sotheby's noch einen Claude Monet (La Plage à Trouville 15,86 Millionen Dollar) aus dem Angebot fischen und für Gino Severinis Danseuse den bis heute gültigen Auktionsrekord von mehr als 31 Millionen Dollar bewilligen.

Kunstkauf über Offshore-Firmen

Wer hinter diesem Kaufrausch stand, der sich innerhalb einer Woche allein in den Auktionssälen Londons auf gut 160 Millionen Dollar summieren sollte, blieb ein von Akteuren des internationalen Kunstmarkts gut gehütetes Geheimnis, das nun durch eine internationale Recherche, an der DER STANDARD beteiligt war, gelüftet werden kann. Sein Name: Roman Abramowitsch, dessen Vermögenswerte aufgrund der gegen ihn verhängten Sanktionen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind. Vor allem die gemeinsam mit seiner Ex-Frau Darja Schukowa über ein knappes Jahrzehnt im Verborgenen aufgebaute Privatsammlung, die in Umfang und Güte bislang unbekannt war und zu den wertvollsten privaten Kunstschätzen der Welt gehört.

Zu dieser gehörten Werke von Pablo Picasso, Claude Monet, Henri Matisse, Amedeo Modigliani, Max Beckmann und Egon Schiele, aber auch von Lucian Freud und Francis Bacon, sowie Skulpturen von Henry Moore, Antony Gormley, Alberto Giacometti und Jeff Koons. Das zeigen geheime Verträge, die dem STANDARD, dem britischen Guardian, dem deutschen Spiegel und zehn weiteren Medienhäusern vorliegen.

Sie geben detaillierte Einblicke in ein Geflecht aus Offshore-Firmen und Trusts, die Abramowitsch zuzurechnen sind und die genutzt wurden, um bedeutende Werke der Moderne und zeitgenössischer Kunst zu erwerben. Die internen Daten legen Geschäfte mit Auktionshäusern, Galerien und Kunstberatern sowie Verbindungen zu einer Reihe von internationalen Museen offen.

Datenleak aus Zypern

Demnach gastierten Leihgaben aus seiner Sammlung auch in österreichischen Museen – etwa im mittlerweile geschlossenen Essl-Museum in Klosterneuburg, wo im Herbst 2011 Neo Rauchs Gemälde Bad (2003) in der Ausstellung Hinter den Gärten zu sehen war. Wie aus dem Leihvertrag hervorgeht, soll sich der Versicherungswert auf 783.000 Dollar belaufen haben. Auf Wunsch des Leihgebers wurde das Bild nur mit dem Hinweis "Private Collection" versehen. Die geleakten Dokumente stammen von Merit Servus, einem zyprischen Finanzdienstleister, der zahlreiche Offshore-Firmen von russischen Oligarchen verwaltet hat, wie der Guardian bereits im Jänner enthüllte. Infolge der Berichterstattung wurde das in Limassol ansässige Unternehmen im April 2023 von Großbritannien sanktioniert.

Mittlerweile wurde Merit Servus auch die Lizenz entzogen. Zu dessen prominentesten und wichtigsten Kunden gehörte Roman Abramowitsch als einer der bekanntesten und mächtigsten Männer Russlands, der ursprünglich mit Öl- und Stahlgeschäften reich wurde. In Europa ist er vor allem als langjähriger Eigentümer (2003–2022) des Londoner Fußballklubs Chelsea bekannt geworden. Forbes schätzt das Vermögen des siebenfachen Vaters (aus zwei Ehen) und israelischen (2018) sowie portugiesischen (2021) Staatsbürgers derzeit auf mehr als neun Milliarden Dollar.

Abramowitsch und Putin

Bis heute werden ihm enge Verbindungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin nachgesagt. Seit Kriegsbeginn sollen sie mehrmals miteinander telefoniert und sich persönlich getroffen haben, wie das Wall Street Journal im Jänner 2023 berichtete. Vergangenes Jahr nahm Abramowitsch in Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew eine Vermittlerrolle ein. Seit März 2022 ist der Oligarch von Großbritannien und der Europäischen Union sowie von der Schweiz, Australien und Kanada sanktioniert. Neuseeland folgte später.

Abramowitsch
Abramowitsch im März 2022 nach ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul.
IMAGO/ITAR-TASS

Nicht sanktioniert wurde hingegen seine Ex-Frau Darja Schukowa, genannt Dascha, die teils in den USA aufwuchs und auch amerikanische Staatsbürgerin ist. Sie lebt inzwischen in New York, ist in zweiter Ehe mit Stavros Niarchos II, dem Enkel eines griechischen Schiffsmagnaten, verheiratet und sitzt in den Boards of Trustees des Los Angeles County Museum of Art und des Metropolitan Museum of Art.

Aufstieg eines Power-Paars

Ihr Aufstieg zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der globalen Kunstszene ist eng mit Abramowitsch verknüpft, den sie laut Medienberichten 2006 kennenlernte und zwei Jahre später heiratete. 2008 war auch jenes Jahr, in dem sich die beiden als Power-Paar etablierten, das Prominente, Musiker, Filmstars und Künstler um sich scharte.

Einen der Anlässe gab die Eröffnung der von Abramowitsch finanzierten Galerie, die sich damals in einem stillgelegten Busdepot in Moskau befand. Zur exklusiven Eröffnungsparty in das Garage Centre for Contemporary Culture waren 300 Gäste geladen, darunter auch Ronald Lauder, Jeff Koons oder Larry Gagosian. Im Anschluss an das Dinner trat Amy Winehouse auf die Bühne und sang ihren Song Hey Little Rich Girl. 750.000 Dollar war den Gastgebern dieses Konzert der mittlerweile verstorbenen fünffachen Grammy-Gewinnerin (2008) wert, wie aus den geleakten Verträgen hervorgeht.

Abramowitsch und Schukowa im Jahr 2016 bei einem Spiel des FC Chelsea.
imago images/Javier Garcia/BPI/Shutterstock

In den Tagen zuvor war bekannt geworden, dass es sich bei dem anonymen Käufer, der in New York Lucian Freuds Benefits Supervisor Sleeping für 33,64 Millionen Dollar und anderntags ein Triptychon von Francis Bacon für stolze 86,3 Millionen Dollar ersteigert hatte, um Abramowitsch handelte. Zwei der wenigen spektakulären Ankäufe, die wohl nicht ganz zufällig, sondern gezielt publik wurden.

Insider wussten Bescheid

Die damit unmissverständlich verknüpfte Botschaft: Hier ist jemand bereit, ein Vermögen in eine Sammlung zu investieren, die ihm auch Anerkennung der Kulturelite des Westens garantieren würde. Theoretisch, denn praktisch pflogen Abramowitsch und Schukowa ihre Leidenschaft fern der Öffentlichkeit. Der Kreis der Informierten blieb überschaubar: beschränkt auf gewisse Mitarbeiter von Auktionshäusern und Galerien, einige Künstler, branchentypische Dienstleister oder auch Kunst- und Zollfreilager. Die Kunstwerke wurden mehrfach transportiert, konkret zu den Luxusdomizilen von Abramowitsch in England, an die Côte d’Azur oder auch auf seine 700 Millionen Dollar teure Luxusyacht Eclipse. Das geht aus Leihverträgen innerhalb von Abramowitschs Firmengeflecht hervor.

Die fachkundige Beratung beim Aufbau der Sammlung ließ sich Abramowitsch etwas kosten: Er engagierte etwa den Kunstberater Sanford („Sandy“) Heller, der einem Dokument zufolge von 2011 bis 2017 ein Jahressalär von 500.000 Dollar bezog, Spesen wurden selbstverständlich extra verrechnet. "Sandy" Heller war auch der Kontaktmann für das Kunsthistorische Museum in Wien, der Lucian Freuds Benefits Supervisor Sleeping als Leihgabe organisierte. Das Gemälde war eine der ersten Leihgaben, die das KHM für die dem britischen Maler gewidmete Ausstellung in Österreich fixiert hatte. Der Leihvertrag sah eine Versicherung des Gemäldes zum Wert von 50 Millionen Euro vor. Auf Anfrage ersucht die Sprecherin des Museums um Verständnis, dass zu Vertragsdetails generell keine Auskünfte erteilt würden. Nachsatz: Selbstverständlich handle man immer nach den geltenden Gesetzen.

Auch Werke von Ilya Kabakov, dem Begründer der Moskauer Konzeptkunst, fanden 2014 ihren Weg nach Österreich, konkret ins Kunsthaus Graz. Gezeigt wurden dort Zeichnungen aus den 1970er-Jahren sowie Schedule of Behaviour of the Mokushansky Family (1983). Der Leihvertrag für Letzteres sah eine Versicherung auf drei Millionen Dollar vor – Abramowitsch hatte dafür tatsächlich nur 428.311 Dollar bezahlt. Unterzeichnet wurde der Vertrag Mitte Jänner 2014: von den Geschäftsführern des Universalmuseums Joanneum sowie einem Treuhänder eines Harmony Trust Settlement mit Sitz in Zypern, genauer Limassol.

Egon Schiele für New York

Harmony war damals Eigentümer des Großteils der Sammlung von Abramowitsch. Ab 2017 wurden dann mehr und mehr Kunstwerke an eine Seline Invest Limited verkauft, die ihren Sitz auf Jersey hat und ebenfalls dem Oligarchen zugerechnet werden kann. Insgesamt erwirbt Seline bis Jänner 2018 von mehreren Abramowitsch-Firmen, seinen Trusts und Galerien mehr als 360 Kunstwerke mit einem Ankaufsvolumen von rund 960 Millionen Dollar.

Warum so viele Kunstwerke zu Seline wanderten? Womöglich könnte das mit der Trennung von Abramowitsch und Darja Schukowa zusammengehängt haben, die im August 2017 publik wurde. Aus den Verträgen geht hervor, dass ein Teil der Kunstwerke damals nach New York transportiert wurde, wo Schukowa an der Upper East Side lebt. Auch ein Aquarell von Egon Schiele landete in New York.

Schukowa und Abramowitsch sind jedenfalls Begünstigte der Treuhandgesellschaft Ermis Trust Settlement, der Seline Investment gehört. Sollte Abramowitsch sterben, rücken die gemeinsamen Kinder an seine Stelle.

"Wichtig, Netz der Sanktionen auszuweiten"

Kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine beschließen die Treuhänder eine erneute Änderung. Die geleakten Dokumente zeigen, dass Schukowa nun plötzlich “unwiderruflich Anspruch auf 51 Prozent der Ausschüttungen des Trustvermögens hat, Abramowitsch nur noch 49 Prozent - womöglich ein Schutz vor Sanktionsmaßnahmen.

Rechtsanwalt und Sanktionsexperte Viktor Winkler erkennt hier ein Muster, bei dem Personen, die später auf die Sanktionsliste kamen, ihre Vermögenswerte umgelegt hatten. "Das haben wir übrigens 2014 am stärksten erlebt." Doch die Änderung der Eigentümerverhältnisse im letzten Moment ist laut Winkler keine Garantie dafür, dass die Kunstsammlung nicht beschlagnahmt werden könnte. "Die tatsächliche Kontrolle und nicht die Prozentzahl ist entscheidend," sagt der Jurist.

Wie groß die Sammlung aktuell noch ist, ist unklar. STANDARD-Recherchen zufolge dürften in den Jahren 2017 und 2018 einige Kunstwerke verkauft worden sein, sei es über Auktionshäuser oder auf diskretem Weg über befreundete Kunsthändler. Dem Vernehmen nach soll es seit Februar 2022 keine Verkäufe gegeben haben, die nicht nur den Kunsthandel in der EU, der Schweiz oder auch Großbritannien in den Verdacht der Umgehung von Sanktionen rücken würden.

"Dieser Fall unterstreicht, wie wichtig es ist, das Netz der Sanktionen auf jene auszuweiten, die eine Umgehung der Sanktionen erleichtern könnten, das heißt auf aktuelle oder ehemalige Familienmitglieder, einschließlich geschiedener Ehefrauen in gutem Einvernehmen", sagt Tom Keatings, Gründungsdirektor des Centre for Financial Crime and Security Studies am Royal United Services Institute in London.

Auf Anfragen zum Verbleib der einst für fast eine Milliarde Dollar angehäuften Sammlung reagierte das ehemalige Sammler-Ehepaar unterschiedlich: Roman Abramowitsch ließ sie unbeantwortet. Darja Niarchos-Schukowas Anwaltskanzlei übermittelte hingegen zwei Schreiben, aus denen nicht direkt zitiert werden darf. Sinngemäß heißt es darin, dass Schukowa niemals Schritte unternommen habe, um Sanktionen zu umgehen, dies gelte auch bezüglich der Kunstwerke in dem Trust. Der Trust sei der Eigentümer der Bilder und verfüge darüber, sie selbst sei lediglich Begünstigte. Den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteile sie im Übrigen. (Rob Davies, Olga Kronsteiner, Laurin Lorenz, Ruben Schaar, Fabian Schmid, Timo Schober, Anastasia Trenkler und Frederik Obermaier, 22.9.2023)