Sinaloa-Drogenkartell, Methamphetamin, Fentanyl, Mexiko, Drogenbosse, organisierte Kriminalität
Keine Holzdübel, sondernMethamphetamin-Kapseln: Mitglieder des Sinaloa-Kartells bei der Arbeit. Längst hat sich die kriminelle Organisation, die auch Geldwäsche und Menschenhandel betreibt, über den gleichnamigen mexikanischen Bundesstaat hinaus ausgebreitet und an Macht gewonnen.
REUTERS/Alexandre Meneghini

Vor wenigen Tagen wurde der Sohn des mexikanischen Drogenbosses Joaquín "El Chapo" Guzmán, der 33-jährige Ovidio Guzmán, an die USA ausgeliefert. Er hatte Teile des illegalen Geschäfts seines Vaters übernommen und dürfte zum wichtigsten mexikanischen Händler der Droge Fentanyl geworden sein. Sein Vater wurde 2019 in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt, zuvor wurde er auch durch spektakuläre Gefängnisausbrüche bekannt. Der Festnahme des Sohnes zu Beginn des Jahres folgten blutige Kämpfe: Bandenmitglieder des Sinaloa-Kartells, dem die Familie angehörte, zündeten Autos an und blockierten damit Straßen, es kam zu Schießereien und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dabei dürften 29 Personen gestorben sein.

Die organisierte Kriminalität in Mexiko ist gewalttätiger geworden, entsprechende Analysen gingen bisher aber nicht über Expertenschätzungen hinaus. Nun legt ein Forschungsteam mit österreichischer Beteiligung erstmals eine Studie vor, die die Mitgliederzahlen der Kartelle in Mexiko abschätzt und die Entwicklung skizziert, wobei mit Kartellen organisierte mafiöse Kriminalität gemeint ist und nicht die Abstimmung wirtschaftlicher Wettbewerber. Erstautor Rafael Prieto-Curiel forscht am Complexity Science Hub (CSH) in Wien. Seinem mathematischen Modell zufolge sind Verhaftungen der Beteiligten, die ihr Geld illegal, etwa mit Produktion und Verkauf von Drogen, Geldwäsche und Menschenhandel verdienen, wenig effektiv, um der Gewalt Einhalt zu gebieten. Stattdessen sei das "Verringern von Kartellrekrutierungen die einzige Möglichkeit, die Gewalt in Mexiko zu verringern", wie bereits der Studientitel bekannt gibt. Erschienen ist die Forschungsarbeit im renommierten Fachjournal "Science".

350 Mafia-Anwerbungen pro Woche

Die Zahlen sind bestürzend: Lateinamerika macht nur acht Prozent der Weltbevölkerung aus, doch kommen hier etwa ein Drittel der vorsätzlichen Tötungen vor. Zu den Ländern mit besonders hoher Gewalt zählt Mexiko: Dort kamen 2021 auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner im Land durchschnittlich 27 Mordopfer, insgesamt waren es etwa 34.000 Tote. Seit 2007 hat sich die Zahl der Tötungen mehr als verdreifacht. Ein Großteil der Fälle hat mit der organisierten Kriminalität zu tun: Den Zahlen des Forschungsteams zufolge sind die kartellbedingten Todesfälle von 2012 bis 2021 um 77 Prozent gestiegen.

Obwohl Kartelle täglich dutzende Mitglieder durch Tötungen und Verhaftungen verlieren, hat die Gewalt nicht abgenommen, wie die Studienautoren schreiben. Dies war ein Grund, die Studie durchzuführen. Prieto-Curiel, der selbst seine akademische Laufbahn in Mexico-Stadt begann, schreibt mit seinen Kollegen Gian Maria Campedelli und Alejandro Hope, dass die mexikanischen Kartelle derzeit etwa 175.000 Mitglieder haben dürften, das wären 60.000 mehr als 2012. Damit stellen sie zusammengenommen den fünftgrößten Arbeitgeber Mexikos dar.

Pro Woche müssen sogar mindestens 350 Menschen angeworben werden, die mit den Kartellen zusammenarbeiten, um die Verluste auszugleichen und zum geschätzten Wachstum zu führen. Im Beispieljahr 2021 wurden offenbar mehr als 19.000 Personen rekrutiert, während etwa 12.000 Mitglieder durch Inhaftierungen und Konflikte mit anderen Kartellen von der Bildfläche verschwanden. Der Zuwachs von etwa 7.000 Mitgliedern spreche für die Rekrutierungsfähigkeiten der Kartelle.

Haft wenig effektiv

Etwa 150 Kartelle sind in Mexiko aktiv. Für ihre Systemanalyse charakterisierten die Experten die ihnen bekannten Allianzen und Rivalitäten zwischen den Banden und sammelten Daten zu Mordfällen, Vermissten und Inhaftierungen, zu denen es in Mexiko zwischen 2012 und 2022 wohl in Verbindung mit Kartellen kam. Staatliche Maßnahmen gegen die illegalen Aktivitäten seien wenig wirkungsvoll, wie Prieto-Curiel in einer Aussendung des CSH erklärt: "Wenn Mexiko diesen Weg fortsetzt, wird es bis 2027 um 40 Prozent mehr Tote geben als heute, und die Kartelle werden um 26 Prozent mehr Mitglieder haben." Jährlich entstehen bereits jetzt infolge der Gewalt geschätzt Kosten von umgerechnet etwa 227 Milliarden Euro, was gut 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Mexikos ausmacht.

Drogenboss Joaquín
Drogenboss Joaquín "El Chapo" Guzmán leitete das Sinaloa-Kartell, bevor er festgenommen und erst nach Mexico-Stadt, dann in die USA ausgeliefert wurde.
AP / Eduardo Verdugo

Selbst wenn doppelt so viele Menschen wie aktuell inhaftiert werden, dürfte es dem Modell nach 2027 acht Prozent mehr Todesfälle geben. Die Fachleute analysierten unterschiedliche Faktoren, die diese Entwicklung beeinflussen. Ihnen zufolge ist es in Bezug auf die Gewalttaten verhältnismäßig wenig effektiv, möglichst viele Betroffene ins Gefängnis zu bringen. Einen größeren Einfluss habe es, wenn bei der Rekrutierung der Kartelle angesetzt wird: Lässt sich das Anwerben neuer Mitglieder eindämmen, würde es in vier Jahren um ein Viertel weniger Todesopfer geben. Die Kartelle würden um elf Prozent schrumpfen. Selbst bei einem sofortigen Stopp der Rekrutierungen würde es aufgrund der aktuellen Kartellgrößen drei Jahre dauern, bis laut Modell das Gewaltniveau von 2012 erreicht werden würde, was noch immer hoch wäre.

Die Prävention wäre demnach mathematisch im Gegensatz zur Reaktion auf die Gewalt durch Polizei die weitaus wichtigere Maßnahme. Wenn weniger Personen rekrutiert werden, würde das erstens die Anzahl künftiger Mitglieder reduzieren und damit die Gewalt reduzieren, weil es weniger potenzielle "Killer" gäbe, schreiben die Forscher. Zweitens gäbe es auch weniger potenzielle Opfer, zumindest was die Gewalt an fremden Kartellmitgliedern angeht. Drittens seien die Rekrutierungsmöglichkeiten der Zukunft so ebenfalls eingeschränkt.

Rekrutierungen verhindern?

Diesen Schlussfolgerungen stehen andere Wissenschafter kritisch gegenüber. In einem begleitenden Kontextartikel schreiben Forscher um den US-amerikanischen Kriminalforscher Peter Reuter von der Universität Maryland, dass die Studie zwar erstmals die wichtige Aufgabe angehe, die Anzahl der Beteiligten zu schätzen (zuvor habe es nur vereinzelt Expertenschätzungen gegeben) und die Grundlage für Entwicklungsszenarien zu liefern. So sei nicht ganz nachvollziehbar, weshalb die Zunahme von Mitgliedern zwingend mit mehr Gewalt einhergehe. Womöglich gehe die Kausalität in die andere Richtung und man werbe mehr Personen an, um sich besser vor Angriffen zu schützen.

Doch wie ließe sich die Rekrutierung überhaupt vermindern? Prieto-Curiel und Kollegen schreiben, dass "strukturelle Anstrengungen auf staatlicher und lokaler Ebene" nötig wären. Vor allem müsste es in stark von Kartellen dominierten Gebieten Bildungs- und Arbeitsangebote geben, "die die kurzfristigen Vorteile von Kartellen überwiegen". Das dürfte aber schwierig sein, wenn bei der Anwerbung nicht nur schnelles Geld winkt, sondern etwa Familienmitglieder bedroht werden.

Dass man in Mexiko ohne die Aussicht auf sozialen und finanziellen Aufstieg darüber nachdenkt, Kartellmitglied zu werden, mag für manche nachvollziehbar sein, ein langfristig wohlhabendes und freies Leben dürfte sich aber nur für die wenigsten ergeben. "Die Karrierewege in den Kartellen sind sehr kurz und gewalttätig", betont Prieto-Curiel. "In zehn Jahren werden 17 Prozent der von den Kartellen angeworbenen Personen tot sein, und 20 Prozent werden in Gefängnissen sitzen."

Das Ende eines korrupten Deals

Interessant wäre auch die Frage gewesen, weshalb die Mitgliederzahlen stiegen, obwohl sich der illegale Drogenmarkt eher verkleinert habe, etwa was den Export von Cannabis in die USA angeht, schreiben Reuter und Kollegen. Sie mutmaßen: Womöglich verlagerten sich die kriminellen Gruppen in andere "Berufsfelder" wie illegalen Rohstoffabbau und Entführungen. Auch müsse Gewalt über Mord und Totschlag hinausgehend betrachtet werden. Angedrohte Gewalt stelle hier ebenfalls ein großes Problem dar, etwa wenn von einem Geschäftsinhaber Schutzgeld erpresst oder eine Politikerin bestochen würde, statt Kartelle zu bekämpfen.

Der politische Kontext sei ebenfalls relevant. Immerhin sei der Anstieg der Gewalt mit der Präsidentschaft von Felipe Calderón (konservative Partei PAN) ab 2006 in Verbindung zu bringen. Dieser habe die Kartelle besonders angegriffen, um seine Legitimität zu stärken. Damit habe er aber eine frühere – korrupte – Abmachung zwischen einigen Kartellbossen und der zuvor regierenden Revolutionspartei PRI quasi aufgelöst. "Wir plädieren nicht nostalgisch für die Wiederherstellung der Pax PRI", schreiben die Autoren des Kommentars. Doch sie wollen darauf hinweisen, dass die Massaker nicht zwangsweise mit Drogenschmuggel zu tun haben. Die genauen Gründe für die Gewalt müssten noch besser analysiert werden.

Die Veröffentlichung der neuen Studie wird überschattet vom Tod eines Co-Autors. Alejandro Hope, einer der bekanntesten Sicherheitsanalysten Mexikos, starb vor fünf Monaten. Er befasste sich jahrelang mit der Gewalt der Drogenkartelle sowie der mexikanischen Sicherheitspolitik und verfasste für nationale wie internationale Medien Kolumnen und Gastbeiträge. Bekannt ist, dass er für einen medizinischen Eingriff im April Blutspenden benötigte und am folgenden Tag verstarb. Er wurde 52 Jahre alt. (Julia Sica, 21.9.2023)