Immer mehr Kinder und Jugendliche sammeln ihre ersten und vielleicht auch letzten Games-Erfahrungen auf dem Smartphone.
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In der Straßenbahn, auf der Parkbank, im Warteraum: Videospiele sind in der berühmten "Mitte der Gesellschaft" angekommen. Auf Millionen Handy-Bildschirmen wird gespielt, auch und vor allem von Menschen, die sich nie und nimmer selbst als Videospieler bezeichnen würden. Umgekehrt verwehren sich die, die hauptsächlich auf den klassischen Spielgeräten PC und Konsole spielen, gegen eine Gleichsetzung mit den "neuen" Spielefans. Eh schon wissen: Mobile Games seien keine "richtigen" Spiele, die Handy-Spielerinnen und -Spieler keine "richtigen Gamer".

Denen ist das freilich egal – mit dem schlecht beleumundeten Nerd-Baumhaus der angeblich einzig wahren Zielgruppe will man eh nichts zu tun haben, nur weil man bei Gelegenheit ein bisschen am Handy spielt. Obwohl, von wegen "ein bisschen": Die Videospielbranche selbst macht inzwischen längst den Löwenanteil ihres Umsatzes mit genau diesem neuen Publikum und mit Spielen, die in vielerlei Hinsicht ein ganz eigenes Universum darstellen.

Über 60 Prozent des gesamten Umsatzes der globalen Gaming-Branche werden mit Mobile Games generiert, Tendenz: weiterhin steigend. 141 der 217 Milliarden Dollar, die in der Branche erwirtschaftet werden, entfallen heute schon auf sie. Bis 2028 soll sich der Mobile-Umsatz auf 300 Milliarden Dollar noch mehr als verdoppeln.

Gratis bergab

Diese Zahlen werden noch schwindelerregender, wenn man sich vor Augen führt, dass der Großteil dieser Umsätze mit Free-to-Play-Spielen erwirtschaftet wird – über 80 Milliarden Dollar jährlich stammen heute aus Mobile-Game-Mikrotransaktionen oder Werbedeals. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Krankenpflegerin auf dem Arbeitsweg im Bus, der Jugendliche auf der Parkbank oder der gelangweilte Pensionist im Wartezimmer auf dem Handy irgendeines genau dieser kostenlosen Games spielt, ist sehr, sehr hoch.

Über die handfesten Nachteile und psychischen Fallstricke dieser Art Videospiel wurde andernorts, aber natürlich auch im STANDARD selbst seit dem Erscheinen des Phänomens berichtet; der hohe Preis von Gratisspielen zeigt sich in psychologisch immer ausgefuchsterer Manipulation, Gamedesign, das auf Frustration statt Spielspaß setzt, und der Verwendung problematischer, auf maximale Bindung abzielender Spielmechaniken. Das große Wort "Sucht" ist mit Vorsicht zu verwenden, doch Fakt ist, dass die F2P-Branche ihre Produkte nach Prinzipien gestaltet, die die analoge Glücksspielindustrie seit Jahrzehnten entwickelt und verfeinert hat.

Klein, seicht, erfolgreich

Das 2015 erschienene Free-to-Play-Game "Subway Surfers" ist ein typischer Endless Runner. Bis heute wurde es insgesamt vier Milliarden Mal heruntergeladen, 2022 spielten täglich (!) 35 Millionen Menschen das Spiel. Gesamtumsatz: 155 Millionen Dollar. Bei solchen Zahlen, die ein kleines, seichtes und absolut unoriginelles Spiel zum Phänomen machen, ist es kein Wunder, dass der absolute Großteil der dutzenden Spiele, die täglich neu erscheinen, keinen Anlass sehen, mehr zu bieten.

In dieser Flut an immergleichen Epigonen geht auch unter, was eigentlich besser wäre – vor allem, wenn es im Gegensatz zur F2P-Lawine auf ein anderes, klassisches Monetisierungsmodell setzt. Die Frage ist berechtigt: Wo und wie findet man denn eigentlich die "guten" Mobile Games?

Journalistische Kapitulation

Wer Interesse hätte, auf seinem Smartphone qualitativ Hochwertigeres zu spielen und dafür sogar zu bezahlen, steht vor dem nicht trivialen Problem, eine Auswahl zu treffen. Wie die Nadel im Heuhaufen finden? Die journalistische Begleitung dieses Markts ist in den letzten Jahren völlig erodiert. Kein Wunder, angesichts der Sintflut an neuen Titeln, die in den Download-Stores von Google und Apple täglich unkuratiert vom Fließband vor die Füße der Welt gekippt werden. Der klassische Videospieljournalismus zuckt die Schultern – das ist aber auch egal, denn der wird vom Großteil des Mobile-Games-Publikums ohnehin nicht konsumiert.

In den Breitenmedien, die sich zumindest in der Theorie gesamtgesellschaftlicher kultureller Phänomene annehmen sollten, findet auch höchstens der neueste AAA-Blockbuster Erwähnung. Mobile Games existieren auch dort kaum – abgesehen von einzelnen, namhaften Phänomenen wie "Marvel Snap", "Diablo Immortal" oder "Pokemon Go". Von einem Spiel wie "Subway Surfers", das die Leserschaft vermutlich massenhaft konsumiert, hat man hingegen kaum je etwas nur annähernd Journalistisches gelesen.

Nimmt man Statistiken aus Deutschland als Vergleich, spielen wohl auch im Rest der Welt, auch in Österreich, knapp 40 Prozent der Gesamtbevölkerung mehr oder weniger regelmäßig Mobile Games, die weit unterhalb des Glamours der oben genannten Mobile-Blockbuster aus der klassischen Industrie ihr Geld machen. Sie werden publizistisch nicht einmal wahrgenommen. Es ist ein blinder Fleck mit einem Umsatz von mehr als 80 Milliarden Dollar jährlich.

Subway Surfers
"Subway Surfers" gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Free-to-Play-Spielen.
Sybo

Ausweg Abomodell?

Wie – und ob – sich diese Leerstelle füllen lässt, ist ungewiss; wer auf der Suche nach Kuration im Mobile-Dschungel ist, hat aber in den letzten Jahren zumindest ein wenig Unterstützung erhalten. Mit Apple Arcade gibt es für iOS-Geräte ein Abomodell, das empfehlenswerte Mobile-Games zum monatlichen Fixpreis versammelt, und auch Netflix bietet den Kundinnen und Kunden seines Film- und Serienstreaming-Angebots eine wachsende Zahl an qualitativ hochwertigen Spielen weitab vom F2P-Schrott. Auch Googles dementsprechendes Abo Google Play ist einen Blick wert.

Ob sich so die am Smartphone "Subway Surfers", "Clash of Clans" und Co spielende Mitte der Gesellschaft auf Titel bringen lässt, die mehr zu bieten haben als psychologisch feingetunte Frust- und Suchtspiralen, ist allerdings fraglich Es ist ein Teufelskreis: Wer keine hohe Meinung von Videospielen hat, greift zum Gratisangebot – und bekommt dafür etwas, das sein Vorurteil vom minderwertigen Produkt bestätigt, für das am besten kein Geld ausgegeben werden sollte. Die schlechte Meinung über ein ganzes Medium, das maximal zum Zeittotschlagen in der U-Bahn taugt, lässt sich durch genau diesen Konsum nicht revidieren.

Kurzum: Auf nicht absehbare Zeit wird sich am Status quo nichts ändern. Die Spiele, die in der "Mitte der Gesellschaft" angekommen sind, bleiben ein milliardenschweres Trauerspiel. (Rainer Sigl, 24.9.2023)