Passantinnen und Passanten auf der Wiener Mariahilfer Straße. 
Als beliebte Einkaufsmeile wird die Mariahilfer Straße naturgemäß auch immer wieder zum Tatort. In diesem Fall eines versuchten sexuellen Missbrauchs Unmündiger.
Helena Lea Manhartsberger

Wien – Fast alle sind sich einig, dass Herr J. psychisch schwer krank ist und dringend behandelt werden müsste. Die Staatsanwältin, die seine strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum fordert. Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann, der bei dem 21-jährigen Betroffenen eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert und sagt, dass J. "zu einer kleinen Gruppe, die leider sehr gefährlich ist", gehört. Die Eltern, die ihren Sohn fünfmal von der Polizei in eine Klinik bringen ließen, die er jedes Mal nach spätestens zwei Tagen wieder verlassen durfte. Die dann sogar eine Wegweisung gegen das eigene Kind erwirkten, ihm aber daraufhin eine eigene Wohnung finanzierten. Selbst seinem Verteidiger Robert Tobler jun. ist klar, dass eine überwachte medikamentöse Therapie das Beste für seinen Mandanten wäre. Der Einzige, der davon überzeugt ist, völlig normal zu sein, ist der Betroffene selbst.

Der Fall, über den ein Schöffengericht unter Vorsitz von Stefan Renner entscheiden muss, ist eigentlich tragisch. Der unbescholtene J. wuchs völlig normal auf, maturierte, begann ein Studium – und ein Jahr später brach die Krankheit aus. Die Symptome laut dem Experten Hofmann: "Sein Denken kam durcheinander, es kam zu einem massiven Leistungsknick und sozialer Desintegration."

Im heurigen Frühjahr wurde es immer schlimmer: In zwölf Tagen registrierte die Polizei 13 Vorfälle mit ihm. Er stänkerte wildfremde Gruppen an, attackierte sogar Kinder körperlich, die meisten seiner Opfer aber waren weiblich und zwischen 15 und 19. In einem Fall griff er einer ihm unbekannten 19-Jährigen in der U-Bahn-Station Karlsplatz in den Schritt. Ein Teil dieser Vorfälle war strafrechtlich nicht relevant, andere schon, aber keiner war laut dem im Dezember von den Regierungsparteien beschlossenen "Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022" schwer genug, um als "Anlasstat" zu gelten, die eine strafrechtliche Unterbringung rechtfertigen würde. Dafür ist eine Strafdrohung von mindestens drei Jahren nötig, ausgenommen sind nur schwere Körperverletzung und Sexualdelikte.

Zwei Vorfälle in wenigen Stunden

Die Anklägerin glaubt nun, dass zwei Taten, die sich am 6. Mai ereignet haben, diese Voraussetzung erfüllen. Am Nachmittag soll J. auf der Mariahilfer Straße versucht haben, einer 13-Jährigen mit der Hand zwischen die Beine auf ihren Intimbereich zu greifen – laut Strafgesetzbuch der versuchte sexuelle Missbrauch Unmündiger. Einige Stunden später soll er in Wien-Liesing drei 17 Jahre alte Passantinnen geschlagen und verfolgt haben. Als er das Trio einholte, soll er laut Anklage einer davon gedroht haben: "Du kannst weinen, was du willst, ich hole jetzt eine Eisenstange und schlag auf deinen Kopf, bis du blutest." Für die Staatsanwältin ist das eine besondere Form der gefährlichen Drohung, nämlich eine mit dem Tode, die bis zu drei Jahre Gefängnis bringen kann.

Betroffener J. sagt zunächst, er könne sich an diesen Tag nicht mehr erinnern. Dann behauptet er, bei dem Vorfall mit der 13-Jährigen, die mit zwei Freundinnen unterwegs war, habe er einen "low five" mit ihr machen wollen, da er sie kannte. Dann wiederum stellt er in den Raum, dass die Mädchen lügen würden. "Ich vermute, dass sie lügen, um vom System zu profitieren." – "Wie denn?", kann Vorsitzender Renner ihm nicht ganz folgen. "Man bekommt Geld, habe ich gehört. Und man hat unter Freunden ein besseres Image, wenn einem sowas passiert."

Dann wiederum sieht er sich als Opfer. "Dadurch, dass ich so ein typischer Caucasian bin, werde ich ausgeschlossen", sagt der hellhaarige Österreicher. "Ich bin nicht sehr hübsch, aber ich bin einer der Hübschesten", verrät er dem Gericht. "Ich bin halt sehr bekannt, und da gibt es eine große, große Mädchengruppe ... Manche mögen mich nicht, die drohen mir dann mit Jungs", lautet eine Rechtfertigung des psychisch Kranken. "Eine Zehnjährige soll Ihnen mit 'Jungs' gedroht haben? Die Sie schlagen?", versichert Renner sich. J. bleibt dabei.

Diagnose "ist lächerlich!"

Ob er meine, dass die Diagnose paranoide Schizophrenie korrekt sei, will der Vorsitzende vom Betroffenen auch wissen. "Das ist lächerlich! Das stimmt nicht!", ist der sich sicher. "Glauben Sie, dass Sie psychisch krank sind?", wird Renner noch konkreter. "Nein", lautet die eindeutige Antwort des derzeit vorläufig untergebrachten 21-Jährigen.

Verteidiger Tobler jun. ist in einem Zwiespalt. Einerseits möchte auch er, dass dem Betroffenen und seinen im Saal mitleidenden Eltern professionell geholfen wird. Andererseits verpflichtet ihn sein Stand, vor Gericht zu versuchen, das bestmögliche Ergebnis für seinen Mandanten zu erreichen. Also argumentiert er, dass man nicht wissen könne, was auf der Mariahilfer Straße die Absicht seines Mandanten gewesen sei. Bei der ersten Einvernahme habe die 13-Jährige schließlich noch angegeben, sie habe nicht gewusst, was J. mit der ausgestreckten Hand wollte, sie sei einfach ausgewichen. Erst später kam die letztlich in der Anklage verwertete Aussage. Aufgrund ihrer körperlichen Entwicklung habe er auch nicht ahnen können, dass sie unter 14 sei.

Die Sache mit der Eisenstange würde er grundsätzlich als Anlasstat für eine Unterbringung akzeptieren, allerdings sind die Zeuginnenaussagen hier recht widersprüchlich: Ein Teenager erinnert sich, gehört zu haben, J. werde sie auf den Kopf schlagen, bis sie verblute. Ein weiterer will wahrgenommen haben, er werde das Opfer erschlagen. Und die dritte hat nur "Kopf" und "Eisenstange" registriert. Das juristische Problem: Fällt die Todesdrohung weg, wäre die "einfache" gefährliche Drohung nicht mehr genug, um jemanden in ein forensisch-therapeutisches Zentrum zu bringen.

Verteidiger im Zwiespalt

Während die Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer darauf hinweist, dass man zunächst zurückhaltende Schilderungen auch von anderen Opfern sexuell motivierter Angriffe kenne. Bei einer Unmündigen sei es erst recht normal, dass sie erst ihre Scham überwinden müsse. Auch von der Drohung mit dem Tod ist sie überzeugt. Der Verteidiger bleibt dagegen dabei: Der versuchte sexuelle Missbrauch sei nicht nachzuweisen, ob es eine Todesdrohung gab, müsse der Schöffensenat entscheiden. "Entscheiden Sie sich dagegen, wird er heute entlassen. Seine Eltern und ich werden uns bemühen, uns um ihn zu kümmern. Ob es uns gelingt, weiß ich nicht", schließt Tobler jun. beinahe verzweifelt.

Der Senat berät gut 15 Minuten und folgt dann dem Antrag und den Argumenten der Staatsanwaltschaft bezüglich der Mariahilfer Straße. Bei der Eisenstange begründet Renner das Urteil damit, der Betroffene habe "sinngemäß gesagt, er werde mit der Eisenstange auf den Kopf schlagen", was eine Todesfolge impliziere. J. wird also untergebracht. "Was heißt untergebracht?", fragt der Betroffene. "Sie werden jetzt zurück ins Spital gebracht und dort weiter behandelt, bis Sie wieder gesund sind", erklärt Renner. "Okay", gibt der 21-Jährige sich plötzlich entspannt und akzeptiert nach kurzer Beratung mit seinem Verteidiger die Entscheidung ebenso wie die Anklagevertreterin. (Michael Möseneder, 21.9.2023)